Der Schattenesser
Reihen?
Noch einmal brach der Mond durch die Nachtwolken und tauchte die Ruinen in kalten Glanz. Die tiefen Furchen setzten sich auf der anderen Seite des Dorfes fort und führten geradewegs in den Sumpfstreifen, der die äußeren Hütten vom Waldrand trennte. Dahinter waren die Stämme auseinandergebrochen, als sei ein Wirbelsturm zwischen sie gefahren. Ehe Michal erkennen konnte, wie tief die Schneise in den Wald hineinführte, schoben sich die Wolken erneut vor den Mond, und die Finsternis verschluckte alles, was außerhalb des Lichtscheins seiner Fackel lag.
Seine Neugier trieb ihn zwischen den Leichen einher auf die andere Seite des Dorfes. Erstmals wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Traum unterscheiden konnte. Manchmal war ihm, als verschwimme der äußere Rand seines Blickfeldes, als begännen die Bilder sich allmählich aufzulösen. Was aber würde dahinterliegen? Die Wahrheit oder der Wahnsinn? Gab es dieses Dorf und die Schneise im Wald tatsächlich, oder entsprangen sie allein seiner Einbildung? Schlimmer noch: Vielleicht lag ein Fluch über seinem Denken, der ihn Dinge sehen ließ, die es so nicht gab. Dinge, die ihn in eine bestimmte Richtung, zu einem bestimmten Handeln trieben.
Doch die vage Erkenntnis seiner eigenen Unzulänglichkeit löste sich ebenso in Nichts auf wie sein Sinn für die Vernunft. Er stand in diesem Dorf, umgeben von Toten, und vor ihm klaffte eine breite Wunde im Wald. Sein Weg war lange schon vorgezeichnet.
Er näherte sich dem Sumpf, nur um festzustellen, daß er von nahem weit weniger gefährlich wirkte als aus der Ferne. Es war kein wirkliches Moor, er entdeckte keine Tümpel und Schlammfelder. Vielmehr stand das Gras hier knöchelhoch unter Wasser, und die ersten vorsichtigen Schritte überzeugten ihn, daß es sich gefahrlos überqueren ließ. Er würde lediglich achtgeben müssen, in keine der tiefen Furchen zu treten, die vom Wasser überdeckt wurden.
Ungehindert erreichte er die vorderen Bäume. Die Wasseroberfläche setzte sich auch hier fort. Irgendwo in der Nähe mußte ein Fluß über die Ufer getreten sein. Wie es schien, stand ein Großteil des Waldes unter Wasser.
Etwas Großes war achtlos durch die Bäume geprescht wie Kinder durch ein Getreidefeld. Auf einer Breite von vier oder fünf Mannslängen waren die Stämme umgeknickt wie dünne Hahne. Manche waren samt Wurzeln aus dem Boden gerissen, andere in winzige Splitter zerborsten. Trotzdem verspürte Michal nicht die geringste Angst. Seine linke Hand umfaßte Oanas Kette, und einen Moment lang war ihm, als legten sich die Krallen sanft um seine Finger.
Das gelbe Licht der Fackel huschte über die Verwüstung, flackerte geisterhaft um zerfetzte Baumstümpfe und ließ die Schwärze dahinter nur noch tiefer, noch verschlingender erscheinen. Michals Schritte im Wasser verursachten Wellenkreise, die Splitter und Äste knirschend aneinandertrieben. Der Wind von den Hügeln heulte in weiter Ferne durch die Wälder und vermischte sich mit dem allgegenwärtigen Rascheln und Plätschern. Doch jenseits all dieser Laute lag eine Stille, die viel schwerer wog als das Flüstern der Zweige im Wind. Nirgends waren Schritte zu hören, außer Michals eigenen, und was immer diese Zerstörung angerichtet hatte, es mußte nun stillstehen. Es erwartete ihn.
Weiter lief er durch das eiskalte Wasser, das mal nur seine Sohle bedeckte, mal um seine Waden spülte. Falls er später vor etwas fliehen mußte, würde ihn das Brackwasser zur Hilflosigkeit verdammen. Schnelles Laufen war auf diesem Grund unmöglich.
Die Schneise der Verwüstung führte immer tiefer in den Wald hinein, weiter fort vom Dorf und seinen Toten. Bislang war das Hühnerhaus stets hinter ihm gewesen, er hatte nicht sehen können, welche Spuren es auf seinem Weg hinterließ. Nun aber konnte er sich mit eigenen Augen von seiner Macht überzeugen. Er war froh, daß es auf seiner Seite stand. Mit der Kette konnte ihm nichts geschehen, denn er war der Herr. Der Herr! – Das Gefühl seiner Überlegenheit machte ihn trunken vor Stolz und Erleichterung.
Weiter drang er in die Finsternis vor, stieg über zerbrochene Stämme, umrundete Stümpfe, tappte durch Wasser, auf dem etwas schwamm wie Sägespäne. Kein Tier schrie zwischen den Bäumen, kein Vogel flatterte im Geäst. Alles Leben war aus dieser Gegend geflohen.
Michal war, als stiege er hinab ins Innere einer Höhle, durch einen breiten Gang, der sich - vielleicht - irgendwann zu einem
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