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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unterirdischen Dom ausweiten würde. Er hätte nicht mehr sagen können, in welche Richtung ihn sein Weg führte, ob weiter nach Westen oder zurück nach Osten, ja nicht einmal, ob er geradewegs nach vorne wies oder gebogen ins Nirgendwo. Ging er vielleicht im Kreis? Nein, unmöglich, dann wäre er irgendwann wieder auf den Waldrand gestoßen. Stattdessen jedoch schleppte er sich immer tiefer in diesen gottverfluchten Forst.
    Da aber wuchsen plötzlich vor ihm zwei mächtige Baumstämme in die Höhe, und obenauf, inmitten eines verschlungenen Netzwerks aus Ästen und Zweigen, saß ein Baumhaus. Michal blickte noch einmal hin, doch die beiden Säulen in der Dunkelheit waren fraglos Bäume, keine Hühnerbeine, und sie liefen in Wurzeln aus, nicht in Krallen.
    Die Stämme standen eng beieinander und machten sich oben wie unten den Platz streitig. Ihre Wurzelstränge und Kronen waren eng miteinander verschlungen. Im zuckenden Fackellicht sah es aus, als ginge ein leichtes Wogen durch dieses Gewirr, wie durch ein Nest von Schlangen, doch auf den zweiten Blick erwiesen sich die Äste und Stränge als vollkommen starr. Es waren tatsächlich Bäume, keine Frage.
    Das kleine Haus ruhte zu gleichen Teilen in beiden Baumkronen, fast wie eine überdachte Brücke aus Holz. Es war nicht größer als ein gewöhnlicher Schuppen und besaß, soweit Michal das von unten und in der Dunkelheit erkennen konnte, nur eine einzige Tür. Keine Fenster.
    Der Eingang stand einen Spaltweit offen. Im Inneren des Hauses schepperte etwas wie zerbrochenes Tongeschirr.
    Michal stand genau unterhalb der Tür, als diese plötzlich aufgerissen wurde. Erschrocken sprang er vor, um unter das Haus und aus dem Blickfeld derjenigen zu gelangen, die darin wohnte. Er war vollkommen sicher, daß es eine Frau war.
    Etwas wurde durch die Tür geworfen und schlug vor ihm ins Wasser, ein großer Haufen heller Stangen und Stäbe, die sich beim Aufprall verteilten. Er blickte genauer hin und erkannte, daß es Knochen waren. Menschliche Knochen. Von mehr als einer Leiche. Das Fleisch war vollkommen abgeschabt.
    Die alten Geschichten fielen ihm wieder ein, von Hexen, die Kinder fraßen. Auch der Baba Jaga sagte man derlei nach.
    Der Fackelschein tanzte über die halbversunkenen Knochen und brach sich glitzernd auf der Wasseroberfläche. Michal begriff plötzlich, daß ihn das Licht verraten würde, deshalb tauchte er die Fackel eilig in die Nässe. Sie erlosch mit einem Zischen.
    Er stand genau unterhalb des Hauses, inmitten der verästelten Wurzelfinger. Der Eindruck, daß sie sich eben bewegt hatten, kla ng immer noch in seinem Geiste nach, deshalb gab er einer der Wurzeln mit dem Fuß einen Stoß. Er wollte sehen, was geschah.
    Nichts tat sich. Der hölzerne Strang nahm den Tritt mit Gleichmut hin, eine Wurzel wie die andere.
    Ein Klappern ertönte, dann sauste kaum eine Armlänge vor Michals Gesicht etwas in die Tiefe. Nachdem er seinen Schrecken überwunden hatte, erkannte er eine Strickleiter. Jemand will von oben herabsteigen, dachte er beunruhigt. Oder war die Leiter gar eine Einladung an ihn, hinauf zum Haus zu klettern?
    Michal wartete eine Weile ab, doch niemand erschien am oberen Ende. Auch rief ihn keiner aus seinem Versteck - so es denn überhaupt noch ein Versteck war. Unsicher blickte er hinauf zur Unterseite des Hauses. Wurde er längst schon durch eine Luke beobachtet? In der Schwärze war nichts zu erkennen, die Vorstellung aber, daß in der Finsternis ein uraltes Augenpaar auf ihn gerichtet war, ließ ihn erzittern. Sein Griff um die Halskette wurde fester, beinahe hilfesuchend, doch die Krallen blieben kalt und leblos.
    In einem Anflug schaler Hoffnung dachte er, daß es vielleicht gar keinen Grund zur Sorge gab. Oanas Worte hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß er allein über das Hühnerhaus gebot. Oder nicht?
    Er zögerte nicht länger, trat vor und ergriff die Strickleiter an einer ihrer unteren Sprossen. Mit einem Ruckvergewisserte er sich, daß beim Aufstieg keine Gefahrdrohte.
    Nicht beim Aufstieg, wisperte es in ihm.
    Trotzdem setzte er zögernd Fuß um Fuß auf die Sprossen, kletterte schaukelnd dem Haus entgegen. Je höher er stieg, desto besser konnte er die Tür erkennen, aus der die Leiter herabhing. Sie stand nun weit offen. Ein diffuses Zucken wie von Feuerschein flackerte um den Rahmen. Es sah aus, als stehe der Eingang selbst in Flammen.
    Höher, immer höher stieg er, bis er die Bodenkante des Baumhauses umfassen konnte.

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