Der Schattenesser
aus den Straßen verschwunden. Die meisten hatte man zur Bewachung des Flußufers abgezogen. Einmal kam ein Mann aus einer Haustür gestürmt, mit aufgerissenen Augen voller Furcht, und prallte gegen Sarai. Er federte mit einem spitzen Aufschrei zurück, starrte sie erst entgeistert an und begann dann panisch, seinen Arm und seine Schulter abzuklopfen, als habe der Zusammenstoß mit ihr dort den Keim der Krankheit hinterlassen. Sarai ließ ihn achtlos stehen und ging weiter.
Sie war selbst nicht sicher, wonach sie suchte, irrte ziellos durch Torbögen und schmale Gassen, stieg Treppen hinauf und hinunter, kam an winzigen Gärten und Hinterhöfen vorüber. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihrer Umgebung keine Beachtung zu schenken, sosehr lenkte sie jede neue Einzelheit doch von ihren eigentlichen Gedanken ab. Am liebsten hätte sie sich in irgendeinen Winkel verkrochen, das Gesicht zwischen den Armen vergraben. Es schien ihr alles so ausweglos.
Und dann traf sie Kaspar.
Die lebende Kanonenkugel trat hinter ihr aus einem Tor, erkannte sie wieder und rief ihren Namen.
Sarai drehte sich um, erinnerte sich ebenfalls und widerstand dem Drang, einfach loszurennen und vor dem Jungen davonzulaufen. Sie war nicht in der Stimmung für ein Wiedersehen.
Kaspar deutete ihren Gesichtsausdruck falsch. »Ich habe keine Pest, keine Angst«, sagte er.
Sarai rang sich ein Lächeln ab. »Dann sind wir immerhin zwei. So schlimm kann's um die Stadt nicht stehen.«
Kaspar grinste. »Wenn alle verrecken, bleiben wir übrig und gründen mit unseren Kindern eine neue.«
Schüchtern war er offenbar nicht.
»Suchst du jemanden?« fragte er.
»Nicht wirklich.« Sarai sah über seine Schulter und blickte durchs Tor in den Hinterhof, wo die bunte Kanone stand. Sie hatte sich nicht eingeprägt, welchen Weg sie gegangen war. Hätte sie den Hof gezielt finden wollen, wäre es wahrscheinlich vergebens gewesen.
Da kam ihr plötzlich eine Idee. Der Einfall brachte sie für einen Augenblick so aus der Fassung, daß Kaspar besorgt auf sie zutrat.
»Mir geht es gut«, sagte sie eilig, bevor er sie berühren konnte.
Wovor hast du Angst? fragte eine Stimme in ihrem Inneren. Wirklich vor der Pest?
»Du siehst erschöpft aus«, bemerkte er. »Wo wohnst du eigentlich?«
Gute Frage. Wo wohnte sie? Im jüdischen Viertel nicht mehr. Der Mihulka-Turm war auch kein Zuhause. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie gar keins.
Aber sie war nicht ehrlich. »In der Judenstadt«, log sie. »Und ich muß dringend nach Hause.«
Kaspar zuckte bedauernd mit den Schultern. »Sieht schlecht aus. Die haben das ganze Ufer abgeriegelt. An den Söldnern kommt keiner vorbei.«
»Aber vielleicht über sie hinweg«, sagte Sarai schnell.
»Über sie hinweg?« Offenbar dachte er nicht ganz so schnell, wie er redete. Sarai ging auf ihn zu und drängte ihn, ehe er sich versah, zurück in den Hof.
»He, was...?«
Sie ließ ihn nicht ausreden und deutete statt dessen auf die Kanone. »Du hast gesagt, ein Mensch kann damit fliegen, nicht wahr? Wie weit?«
»Wie weit?« Er verdrehte die Augen, als er endlich begriff, was sie vorhatte. »Du bist ja verrückt.«
»Nun sag schon«, drängte sie ungeduldig. »Wie weit kannst du einen Menschen damit schießen?«
Er eilte mit großen Schritten zur Kanone und legte eine Hand auf das buntbemalte Rohr. »Nicht irgendeinen. Nur mich!«
Sarai hörte gar nicht zu. In einem engen Kreis lief sie um das merkwürdige Geschütz und betrachtete es von oben bis unten. Das Rohr war nicht lang, hatte jedoch einen beachtlichen Durchmesser. Es ruhte in einer Aufhängung, die ihrerseits mit zwei knallroten Speichenrädern verbunden war. Auf ihnen konnte das klobige Ding fortbewegt werden.
Neugierig betrachtete sie den Zündmechanismus.
»Kommt man damit bis zum anderen Ufer?«
Sie hatte nicht erwartet, ihn so leicht aus der zu Fassung zu bringen. »Ich... na ja, ich meine, sicher«, stotterte er. »Ungefähr drei Viertel der Strecke. Vorausgesetzt, die Kanone steht unten am Wasser. Aber das kannst du vergessen.«
Wie sollten sie das Geschütz dort hinunter befördern, ohne daß die Söldnertrupps am Ufer es bemerkten?
»Du hast gesagt, du schießt dich damit in den Fluß«, sagte sie und blickte ihm dabei direkt in die Augen. »Irgendwie mußt du es doch dort hinuntergebracht haben.«
»Mit einem Pferdegespann. Die Kanone wird hinten in den Wagen geladen.«
»Und wo ist der Wagen jetzt?«
»Drüben, im Schuppen«, sagte er und
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