Der Schattenesser
Schatten gefahren ist, Sarai. Der Bote mag es vermuten, aber er weiß es nicht. Deshalb versucht er kurzerhand, den ganzen Baum zu fällen. Und ich fürchte, auch den ganzen Wald.«
»Du willst damit sagen, daß ...«
»Daß es nicht allein um deinen Schatten geht und auch nicht um alle Schatten dieser Stadt. Der mal'ak Jahve hat längst den Blick für seine Grenzen verloren. Er ist viel gefährlicher, als wir bislang angenommen haben. Er glaubt, er tut das Richtige, denn er handelt in Gottes Auftrag. Und nichts außer Gott kann ihn von seinem Vorhaben abbringen.«
»Aber wie kann Gott das zulassen?«
»Die Lehren der Rabbiner beinhalten viele Hinweise darauf, daß der Herr sich immer weiter von seinem Volk zurückgezogen hat. Es gibt ein altes Gleichnis, in dem Gott mit einem König und das jüdische Volk mit seiner Tochter verglichen werden. Als die Tochter noch ein Kind war, da sprach und spielte der König mit ihr überall, wo er sie traf, auch in den Gassen und vor allen Leuten. Als sie aber älter wurde, da sagte der König: >Es ist gegen die Würde meiner Tochter, wenn ich mit ihr in der Öffentlichkeit spreche. Man soll ihr eine Laube bauen, in der ich ihr fortan begegnen würde .<
Genauso erging es Gott, denn er sagte über seine Kinder: >Ich erschien ihnen in Ägypten, ich erschien ihnen am Schilfmeer, und ich erschien ihnen am Berge Sinai.
Nun aber sind sie ein großes Volk geworden und haben die Lehren der Thora angenommen: Es ist gegen ihre Würde, wenn ich mit ihnen in der Öffentlichkeit spreche. Sie sollen in meinem Namen Tempel bauen, in denen ich ihnen fortan begegnen will.<« Cassius machte eine kurze Pause, holte Luft und fuhr dann fort: »Und so hat Gott sich ganz allmählich von der Menschheit entfernt. Erstsprach er zu ihr von Angesicht zu Angesicht, dann nur noch in Tempeln und Kirchen, schließlich durch Priester, und heute schweigt er ganz. Wir können zu ihm beten und ihn um Hilfe bitten, doch wer weiß schon, ob er uns überhaupt noch erhört.«
Sarai hatte ihm staunend und mit großen Augen zugehört. Nun begriff sie, wie ausweglos ihre Lage war.
»Aber wenn das die Wahrheit ist«, sagte sie enttäuscht, »dann gibt es niemanden, der den mal'ak Jahve aufhalten kann.«
»Vielleicht nicht«, erwiderte Cassius. »Und doch will ich einen letzten Versuch unternehmen.«
»Was hast du vor?«
»Das laß alleine meine Sache sein.«
Wütend stieß sie sich von der Tischkante ab und trat vor ihn hin. »Das ist doch nicht dein Ernst?« »Natürlich ist es das.« »Du willst mich fortschicken?« »Ich will, daß du zurück zur Synagoge gehst und in der Kammer des Golem abwartest, bis es vorüber ist auf die eine, oder auf die andere Weise.«
»Und du?«
»Ich werde tun, was nötig ist.«
Sarai fuhr auf. »Hör auf mit der Geheimniskrämerei, Cassius. Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was du vorhast.«
Er verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln.»Ich würde ebenso reden, wenn ich du wäre. Ich kann dich verstehen. Aber es nutzt nichts. Du wärest mir ohnehin keine Hilfe. Und nun« - er schob sie sanft aber bestimmt beiseite - »laß mich bitte aufstehen.«
Er erhob sich aus dem Sessel und trat an eines seiner Bücherregale. »Geh jetzt«, sagte er, ohne sich nach ihr umzusehen. »Ich muß einige Vorbereitungen treffen.«
»Du kannst mich nicht einfach fortschicken«, widersprach sie aufgebracht.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich hoffe, daß du meinem Wunsch aus eigenem Willen folgst.« Er zog ein Buch aus dem Regal, umfaßte es mit beiden Händen und sah sich nach ihr um. »Du mußt mir glauben, wenn ich sage, daß du mir nicht dabei helfen kannst. Wieso willst du dich in Gefahr begeben, wenn es unnötig, sogar hinderlich ist? Noch einmal, Sarai: Geh zurück zur Synagoge! Wenn du weitere Ratschläge brauchst, bitte den Golem um Hilfe. Er weiß vieles. Sicherlich mehr als ich.«
»Was immer du tun willst - vielleicht kann er es besser«, sagte Sarai verzweifelt.
»Der Golem? Nein, mein Kind, er ganz bestimmt nicht. Der Rabbi Löw hätte es gekonnt, doch er ist tot. Sein Golem aber ist zur Untätigkeit verdammt. Und nun geh endlich und komm erst wieder zurück, wenn alles vorbei ist.«
Sie trat auf ihn zu und ergriff seine Hand. »Wirst du dann noch hier sein?« »Wieder hier sein«, verbesserte er und drückte aufmunternd ihre Finger.
Sarai überlegte einen Herzschlag lang, ob sie ihn zum Abschied umarmen sollte, entschied sich aber dagegen. Er hätte es nicht gewollt.
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