Der Schattenesser
deutete auf ein hölzernes Tor an der Südseite des Hofes. »Dann könnten wir es versuchen.« Aufgebracht schob er sich zwischen sie und die Kano
ne. »Das können wir nicht. Weil ich es nicht will. Weil ich nicht lebensmüde bin. Und du solltest es auch nicht sein. Abgesehen von den Söldnern, die uns fraglos auf der Stelle erschlagen werden - das heißt, mich werden sie erschlagen, für dich wird ihnen etwas Besseres einfallen. Abgesehen also von diesen Kerlen, wütet am anderen Ufer die Pest. Was, um Himmels willen, willst du überhaupt dort?«
»Zu meiner Familie«, schwindelte sie.
»Du kannst ihnen ja doch nicht helfen.«
»Hast du keine Familie?«
»Nein«, sagte er hart. »Und ich bin froh darüber.«
Sarai zögerte einen Moment lang, dann sagte sie: »Trotzdem muß ich auf die andere Seite. Glaub mir, es
ist wichtig.«
»Hast du irgendwas angestellt?« fragte er mißtrauisch.
»Ich werde ... verfolgt.« Sie schenkte ihm einen giftigen Blick. »Bist du jetzt zufrieden?«
»Von wem?«
»Das geht dich nichts an.«
»Es ist meine Kanone, oder?«
»Von den Söldnern«, sagte sie, weil es das Naheliegendste war.
Er schüttelte den Kopf. »Sie suchen dich, und du willst ihnen direkt in die Arme laufen? Es wimmelt von Soldaten unten am Fluß. Wäre es nicht einfacher, dich zu verstecken, bis die ganze Aufregung vorbei und die Stadttore offen sind?«
»Das überlaß lieber mir«, entgegnete sie schnippisch.
Er starrte sie lange und eingehend an, dann seufzte er. »Du machst es einem nicht gerade leicht.«
»Hilf mir, und du siehst mich nie wieder. Leichter geht es doch gar nicht.
«Er überlegte, schluckte einen Kloß im Hals hinunter und sagte schließlich: »Nein.«
Sarai hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt und ihm ihren Willen eingeprügelt, aber sie wußte, daß das keinen Sinn hatte. Außerdem war sie viel zu erschöpft. Ihre Hoffnungen lösten sich in Nichts auf, und sie fühlte sich nur noch schwach, erschöpft und hilflos.
»Du könntest mich überzeugen«, sagte da Kaspar, gerade als sie sich umdrehen und gehen wollte. »Sag mirnur die Wahrheit. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich anlügt.«
Sarai blickte in seine neugierigen Augen, dann wandte sie sich ab. »Du würdest mir ohnehin nicht glauben.«
»Versuch's.«
Sie blieb stehen. »Ein Engel will meinen Schatten vernichten.«
»Und?«
»Was - und?«
»Was ist auf der anderen Seite, das dir gegen den Engel hilft?«
Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Du glaubst mir kein Wort. Ich muß mich nicht von dir verspotten lassen.«
»Kein Spott«, widersprach er ernst. »Nur eine Frage: Was ist auf der anderen Seite?«
»Du machst dich lustig über mich.«
»Was ist dort drüben?« beharrte er.
Sie atmete tief durch. »Eine Synagoge. Eine Kammer in einer Synagoge. Dort bin ich sicher, er kann da nicht an mich ran.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Weil du glaubst, ich hätte den Verstand verloren.«
»Natürlich hast du den Verstand verloren. Aber lieber helfe ich einer Verrückten als einer Lügnerin.« Er lächelte. »Los, komm mit.«
Er ging auf das Tor des Schuppens zu, während Sarai ihm verwirrt hinterher sah . Sie fragte sich, wer von ihnen der Verrücktere war. Vielleicht paßten sie doch ganz gut zusammen. Zumindest, bis er ihr über den Fluß geholfen hatte.
»Nun komm schon!« rief er noch einmal, während er das Tor öffnete.
Sarai trat an seine Seite und blickte ins Innere. Dort stand ein rundum geschlossener Karren aus Holz, auf dessen Seitenwände Kaspar Bilder der Kanone gemalt hatte. Schrift gab es keine. Wahrscheinlich konnte der Junge weder lesen noch schreiben. Dafür konnte er fliegen. Kein schlechter Tausch, dachte sie.
An einer Wand stand ein magerer Gaul und blickte sie aus müden Augen an. »Das ist Ferdinand«, sagte Kaspar. »Früher hieß er Friedrich, aber seit die Stadt dem Kaiser gehört, nenne
ich ihn Ferdinand. Das habe ich auch den Söldnern erklärt, als sie hier alles durchsucht haben. Sie haben gelacht und uns in Ruhe gelassen.«
Kaspar war mehr als ein wenig verrückt, dessen war sie nun sicher. Aber er war ein gutmütiger Kerl.
»Vielleicht war er ihnen zu dürr«, stellte sie zweifelnd mit einem Blick auf das halbverhungerte Tier fest.
»Sag mir, woher ich Hafer nehmen soll. Der arme Ferdinand muß ebensolchen Hunger haben wie ich.«
»Wovon lebst du, wenn du keine Familie hast?«
»Früher haben die Leute bezahlt, damit ich für sie geflogen
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