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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sie war seine Schülerin, nicht seine Tochter.
    »Ich werde einen Tag warten, Cassius. Nur einen Tag. Danach komme ich zurück.« Er schlug die Augen nieder und lächelte, dann nickte er. »Tu das.« »Das klingt, als sei das ein Abschied für immer.«
    »Das ist es nicht, mach dir keine Sorgen. Wir werden uns sehen, morgen schon.«
    »Wenn jemand wie du das sagt, klingt es wie: Wir sehen uns in einem anderen Leben.«
    Er lachte laut auf. »Ich bin zu alt, um mich auf solche Abenteuer einzulassen. Ich will kein anderes Leben als dieses eine.«
    Nun umarmte sie ihn doch noch, und er erwiderte die Geste voller Wärme. Sie warf noch einen Blick auf Saxonius in seinem Käfig. Der Vogel saß auf der höchsten Stange und schlief. »Bis morgen, alte Krähe«, sagte sie, dann lief sie die Treppe hinunter.
    Sie schlich betrübt durch die Gärten und mahnte sich selbst zur Vorsicht, bis sie bemerkte, daß alle Achtsamkeit unbegründet war. Es gab kaum Soldaten auf dieser Seite des Hradschin, lediglich einen einzigen sah sie aus der Ferne. Irgend etwas stimmte nicht.
    Auch die Mauer wurde nur mäßig bewacht. Der Statthalter des Kaisers mußte seine Männer abgezogen haben, um sie anderswo einzusetzen. Aber wo? Hatte es einen Aufstand gegeben? Waren unerwartet doch noch Getreue des Herzkönigs in Prag geblieben? Waren neue Kämpfe entbrannt?
    Die Wahrheit erfuhr Sarai am Fuß der Burg. Ein neuer Feind war in der Stadt. Unbemerkt hatte er sich eingeschlichen und wütete in den Häusern und Gassen. Seine Opfer waren zahlreich, und selbst die Söldner ergriffen die Flucht.
    »Die Pest! Es ist die Pest!«
    Die Gewänder der alten Frau flatterten, sie wedelte wild mit den Armen, und nackte Todesangst stand in ihren aufgerissenen Augen. Sie kam auf Sarai zugerannt, fiel vor ihr zu Boden und klammerte sich voller Verzweiflung an ihrem Bein fest.
    »Es ist die Pest!« schrie sie schrill. »Drüben, in der Judenstadt. Mein Mann ist auf der anderen Seite, und mein Sohn. Die Soldaten lassen sie nicht über die Brücke. Oh, Herr im Himmel!«
    Sarai versuchte, sie von ihrem Bein zu lösen. »Was sagst du da? Die Pest?«
    Die alte Frau klammerte sich an sie, als könne allein das Mädchen ihr helfen. Sarai packte sie an den dürren Oberarmen und schob sie unter sanfter Gewalt von sich. Die Frau blieb auf den Knien sitzen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie weinte bitterlich.
    Sie befanden sich vor der großen Kirche, von der aus die Straße zur Karlsbrücke führte. Von hier aus, gleichvor dem Kirchtor, war die Brücke noch nicht zu sehen. Es waren kaum Menschen auf der Straße, und die wenigen, die sich ins Freie gewagt hatten, blieben stehen und starrten Sarai und die Alte aufgeregt an. Einige kamen zögernd näher.
    Sarai scheute sich vor soviel Aufmerksamkeit. Trotzdem mußte sie erfahren, was geschehen war. Was hatte die Alte gesagt? Die Söldner hatten die Brücke gesperrt?
    Sie ging vor der verzweifelten Alten in die Hocke.
    »Was ist geschehen?« fragte sie leise, hielt aber eine Armlänge Abstand. Sie fürchtete, daß die Frau erneut nach ihr greifen würde. Was, wenn sie schon den Keim der Seuche in sich trug?
    Die Alte hob den Kopf und starrte sie aus rotgeschwollenen Augen an. Ihr Faltengesicht war naß von Tränen.
    »Die Pest! In der Judenstadt, am anderen Ufer. Die Wächter haben die Brücke abgeriegelt, damit keiner von dort rüberkommt. Aber mein Mann und mein Sohn sind noch drüben. Sie wollten doch nur die Messer schleifen. Und jetzt... jetzt sind sie vielleicht schon krank und ...« Der Rest ging in neuerlichem Schluchzen unter.
    Zwei Männer und eine Frau waren neben sie getreten und bestürmten die Alte ebenfalls mit Fragen. Sarai stand auf und ließ sie stehen. Sie hatte genug gehört. Sierannte um die nächste Ecke und bog in die Straße, die zum westlichen Brückentor führte. Schon aus der Ferne sah sie, daß sich die Zahl der Wächter vervielfacht hatte. Mindestens zwei Dutzend bildeten eine enge Kette, die den Zugang gegen eine Horde aufgebrachter Menschen versperrte. Die Söldner hatten ihre Waffen gezogen, scheuten sich aber noch, sie gegen die zahlenmäßig überlegene Bürgerschar einzusetzen. Jeder einzelne in der schreienden und tobenden Menge mußte wie die alte Frau Angehörige auf der anderen Seite der Stadt haben. Die Angst um Kinder, Eltern und Geschwister ließ sie die Gefahr für das eigene Leben verdrängen. Lautstark verlangten sie, die Brücke zu öffnen, damit ihre Verwandten die Sicherheit

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