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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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des diesseitigen Ufers erreichen konnten.
    Sarai wagte nicht, zu nahe an den Aufruhr heranzutreten, aus Angst, von den Söldnern gestellt zu werden.
    Sie durfte der Obrigkeit jetzt nicht in die Hände fallen. Auch ohne die Mörder der Liga mochte ihr Schicksal besiegelt sein, wenn sie nicht die Synagoge in der Judenstadt erreichte. Den mal'ak Jahve würde die gesperrte Brücke kaum daran hindern, sie aufzuspüren.
    Bis auf zehn Schritte trat sie an die aufgebrachte Menge heran, dann blieb sie stehen und beobachtete das Geschehen. Von hier aus konnte sie sehen, daß auch rechts und links am Ufer Soldaten standen. Man wollte sichergehen, daß niemand den Fluß durchschwamm.
    Sarai wunderte sich nicht mehr, daß sie nur so wenige Wächter auf dem Hradschin angetroffen hatte. Maximilian von Bayern wollte die Seuche weit vor dem Burgtor zurückdrängen. Fraglos ließ er bereits seinen eigenen Aufbruch vorbereiten - falls er die Stadt nicht längst verlassen hatte. Der Schwarze Tod zwang selbst die größten Feldherren in die Knie.
    Trotzdem schreckte die Pest Sarai weit weniger als der Gedanke an den mal'ak Jahve. Sie mußte auf die andere Seite und in die Synagoge. Die Kammer des Golem war ihre einzige Rettung. Die Pest mochte unabwendbar sein, doch gegen den Boten Gottes konnte sie sich wehren. Sie mußte in die Judenstadt.
    Ein Stück weiter nördlich führte die Moldau in einem weiten Bogen nach Osten. Das Viertel der Juden grenzte dort direkt an das gegenüberliegende Ufer. Sarai überlegte, ob es dort eine Möglichkeit geben konnte, über den Fluß zu gelangen. Doch selbst wenn die Kette der Wachtposten, die Maximilian am Ufer hatte aufmarschieren lassen, abseits der Brücke weniger dicht war, so würde man doch das Wasser beobachten und einen langsamen Schwimmer unweigerlich entdecken. Falls die Musketenkugeln Sarai nicht trafen, würde man siefraglos auf der anderen Seite erwarten. Nein, schwimmen schied als Möglichkeit aus.
    Niedergeschlagen entfernte sie sich von der Menge am Fuß der Brückentürme und zog sich zurück in die Gassen der Kleineren Stadt. Menschen rannten durch die Straßen, einige in die Richtung der Brücke, um sich dem Aufruhr anzuschließen, andere genau entgegengesetzt, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und den Pestherd im Osten zu bringen. So schnell hatte sich der Ausbruch der Seuche herumgesprochen, daß die ersten bereits darangingen, ihre Fenster mit nassen Lappen abzudichten und Bretter davorzunageln. Einige Weiber irrten heulend durch die Gassen, manche tuschelten leise an Straßenecken. Von allen Seiten drang das Zuschlagen von Türen und Fensterläden an Sarais Ohr, aus manchen Häusern ertönte gar verzweifeltes Geschrei. Die Besatzung durch die Liga hatte den Menschen alle Geduld und Hoffnung geraubt, und die Gefahr durch den Schwarzen Tod war mehr, als die meisten ertragen konnten.
    Sarai selbst blieb angesichts der Seuche seltsam gefaßt. Sie konnte nur daran denken, wie sie einen Weg über den Fluß finden sollte. Zudem machte sie sich Sorgen um Cassius. Was mochte er vorhaben? Weshalb durfte sie ihn nicht begleiten? Seit er sie bei einem verbotenen Streifzug durch den Königsgarten ertappt und bei sich aufgenommen hatte, war sie ihm stets eine gute Schülerin gewesen. Warum also brauchte er jetzt ihre Hilfe nicht mehr? War es wirklich nur, um sie zu schützen? Der Kummer drohte Sarai zu überwältigen, und sie fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Als sie sich dabei ertappte, daß sie um ihn trauerte wie um einen Toten, zwang sie sich, jeden Gedanken an ihn beiseite zu schieben.
    Sie irrte weiter durch die Straßen, immer unweit des Ufers, für den Fall, daß ihr eine Eingebung kam, die schnell verwirklicht werden mußte. Doch je länger sie an den grauen Häuserfronten vorüberstreifte, desto geringer wurden ihr Mut und ihre Hoffnung. Überall am Fluß patrouillierten Söldnertrupps.
    Immer wieder blickte sie sich angstvoll um, doch bislang war der mal'ak Jahve nirgends zu sehen. Nun starrte sie auch öfter zum Abendhimmel empor, obgleich es ihr fraglich schien, daß ihr Gegner tatsächlich zu fliegenvermochte. Die Engel der Bibel und der alten Illustrationen in Cassius' Büchern mochten gewaltige Feder-schwingen auf dem Rücken tragen, doch an der Gestalt auf dem Synagogendach hatte sie dergleichen nicht bemerkt. Vielleicht war der mal'ak Jahve in seiner menschlichen Erscheinungsform an die Grenzen seines Körpers gebunden.
    Die Plünderer waren

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