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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Freie und blickten zum Wasser. Das Ufer war etwa zwanzig Schritte entfernt, aber um dorthin zu kommen, mußten sie ein Stück freies Gelände überqueren. Ganz zu schweigen von der Zeit, die das Abladen und Bereitmachen der Kanone in Anspruch nehmen würde. Ein Wunder, wenn die Soldaten sie nicht bemerkten.
    »Na gut«, sagte Kaspar, »tun wir's endlich.«
    Er gab Ferdinand einen Klaps, dann holperte der Wagen quer über den Weg und hinaus auf die freie Fläche. Der Schlamm dämpfte die Tritte der Hufe, aber er behinderte auch das Vorwärtskommen. Der kraftlose Gaul zog und zerrte, er verausgabte sich bis aufs letzte.
    Schließlich erreichten sie das Ufer. Jenseits der wenigen erleuchteten Fenster war es so dunkel, daß sie kaum die Hand vor Augen sahen. Draußen auf dem Fluß waren weitere Fackeln zu erkennen, Männer auf Ruderbooten, mit denen sie den Strom nach Schwimmern absuchten. Sarai hoffte, alles würde so schnell gehen, daß sie längst an Land war, ehe die Söldner reagieren konnten.
    Kaspar lenkte Pferd und Wagen in einem engen Bogen, so daß die Ladeluke des Gespanns schließlich zum Fluß gewandt stand.
    »Schnell jetzt!« zischte er.
    Er öffnete den Wagen, legte die beiden Bretter an und bedeutete Sarai, an welcher Stelle sie die Kanone anfassen sollte. Dann schoben sie das Geschütz über die Kante und ließen es über die beiden Holzschienen zu Boden rollen. Sogleich machte Kaspar sich daran, das Rohr zum anderen Ufer hin auszurichten, in einem leichten Winkel gegen die Strömung, damit Sarai nicht allzu weit abgetrieben wurde. Schließlich stopfte er Pulver aus einer seiner Kisten in die Öffnung am hinteren Ende des Kanonenrohrs und steckte eine Lunte hinein. Sarai legte derweil den Harnisch an und setzte sich einen lachhaften Helm auf den Kopf.
    »Dahinten kommen sie«, flüsterte Kaspar.
    Erschrocken fuhr sie herum und blickte in die Richtung, in die sein Finger zeigte. Tatsächlich näherten sich von Süden her mehrere Gestalten. Im Dunkeln war nicht zu erkennen, wie viele es waren. Ungewiß war auch, ob sie die Kanone bereits entdeckt hatten. Sarai hörte Waffen scheppern und das Grölen rauher Stimmen.
    »Kletter in das Rohr«, drängte Kaspar. »Los, machschon!«
    »Und was ist mit dir?«
    »Darum hast du dir doch bisher keine Sorgen gemacht.«
    Sein Vorwurf traf sie ganz zurecht. Tatsächlich hatte sie nicht ein einziges Mal daran gedacht, was mit Kaspar geschehen würde, nachdem er die Kanone gezündet hatte. Spätestens dann mußten die Wächter ihn bemerken.
    Sie wollte ihm danken, er aber schob sie kopfschüttelnd zur Mündung. »Keine Zeit«, sagte er barsch.
    Mit Widerwillen kletterte sie in das Rohr. Die Enge war entsetzlich. Sarais hastiger Atem klang in der Röhre hohl und unheimlich. Schon bereute sie, jemals auf eine so irrsinnige Idee gekommen zu sein, als Kaspar durch die Öffnung rief: »Es geht los!«
    Ihr blieb gerade noch Zeit, sich mit dem Hinterteil auf den gepolsterten Boden des Rohrs zu drücken, Arme und Beine anzuziehen und den Kopf zwischen ihren Knien zu verbergen. Sie hatte plötzlich furchtbare Angst, vor der Enge, vor dem Donner, vor ...
    Es war tatsächlich wie ein Tritt, der sie von hinten traf. Nur hundertmal schlimmer. Etwas krachte mit Gewalt gegen ihren Körper, Donnern erfüllte ihren Schädel. Dann spürte sie eine scheinbare Ewigkeit nichts mehr.
    Das nächste, was sie bewußt erlebte, war der Aufprall auf dem Wasser. Er war fast noch schmerzhafter als die Zündung. Der Helm rutsche von ihrem Kopf und verschwand in der Tiefe. Panisch begann sie in der Eiseskälte zu strampeln und um sich zu schlagen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, schon gar nicht darüber, wie sie ihre Arme und Beine bewegen mußte. Ihre Erinnerung daran war wie fortgewischt. Sie dachte nur: Ich ertrinke!
    Wasser drang ihr in Nase und Mund, Kälte peinigte ihren Körper. Sie konnte nichts sehen, ihr war, als befände sie sich tief unter der Oberfläche. Wohin sie auch packte, überall war nur Wasser. Sie schrie auf, ein wilder Schrei in der Schwärze, der ihre letzte kostbare Luft verbrauchte. Die Strömung riß sie mit sich, rauschte und sauste in ihren Ohren. Von allen Seiten schienen die Fluten auf sie einzudringen.
    Einen Moment lang war ihr, als erstarre alles um sie herum zu einem massiven schwarzen Block. Sie fühlte sich gefangen, wie in Blei gegossen, konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Arme und Beine waren wie gelähmt, ihr Mund stand offen, und jetzt konnte sie

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