Der Schattenesser
erstmals wieder etwas sehen: Luftblasen, die an ihren Augen vorüberperlten. Das Leben, das aus ihrem Inneren strömte und hinauf zur Oberfläche strebte.
Die Oberfläche. Plötzlich traf sie eine zweite Kältewelle im Gesicht, sie hörte ein Fauchen und Klatschen, dann war ihr Gesicht plötzlich im Freien. Etwas schüttelte sie, und mit einem mal öffnete sich der Harnisch und trieb davon. Sarai erkannte über sich die Sterne, betäubend schön, und eine Hand packte ihren Oberarm.
Da ist jemand, dachte sie trübe.
Sie strampelte wieder mit Armen und Beinen, bekam den anderen zu fassen und klammerte sich mit aller Kraft an ihn. Einen Augenblick später sanken sie beide, ein Knäuel aus zwei Leibern. Die Panik verwandelte Sarais Hände in stählerne Klauen, angstvoll hielt sie sich fest, unfähig, die Gefahr zu erkennen. Ohne es zu bemerken, zog sie den anderen mit in die Tiefe, halb verrückt vor Angst und vom Wasser, das erneut über ihre Lippen drang.
Ein Schlag traf sie im Gesicht, von den Fluten gebremst, aber immer noch fest genug, um weh zu tun.
Dann ein Tritt. Der andere strampelte nun ebenso wie sie selbst, riß sie wieder nach oben. Endgültig schwanden ihr die Sinne.
Ihr Körper schleifte über Stein. Fester Boden! Jemand zog sie an Land.
»Komm schon, wach auf!«
Die Worte drangen nur langsam bis zu ihr vor, gedämpft, ganz allmählich. »Sie kommen! Du mußt aufstehen!« Sie kannte diese Stimme. Sie öffnete die Augen. Da
war wieder der Sternenhimmel. Träge drehte sie den Kopf, blickte in ein Gesicht.
»Kaspar?« fragte sie zweifelnd.
»Wer sonst? Komm, wir müssen weiter. Die suchen uns schon weiter unten am Ufer. Noch wissen sie nicht, wie weit wir abgetrieben sind, aber das kann sich schnell ändern. Los, steh auf.«
»Meine Beine ... tun weh«, brachte sie hervor. »Ja«, erwiderte er ungeduldig. »Mir tut auch alles weh. Du hattest wenigstens die Rüstung.«
»Du hast die Kanone noch einmal gezündet?« fragte sie erstaunt und drehte sich auf den Bauch. Mühsam versuchte sie, sich auf die Füße zu stemmen.
»Natürlich«, sagte er. »Die hätten mich fast erwischt. Aber komm jetzt, wir haben keine Zeit.«
Aus der Dunkelheit drangen Rufe an ihr Ohr, gebrüllte Befehle. Hatte man sie entdeckt? Sarai wollte es nicht darauf ankommen lassen und schleppte sich, gestützt von Kaspar, über den steinigen Uferstreifen. Es war furchtbar kalt, und sie hätte viel dafür gegeben, irgendwo am Feuer ihre Sachen zu trocknen. Aber sie mußten weiter. In einiger Entfernung erkannte sie die Häuser der Judenstadt. Von Norden näherten sich Fackeln, die wie Irrlichter im Dunkeln tanzten.
Sie erreichten die Gebäude und schleppten sich an den Fassaden mit ihren schwarzen Fenstern entlang, bis sie auf eine Gasse stießen. Eigentlich war es nur ein schmaler Einschnitt, kaum breit genug, daß sie beide nebeneinander gehen konnten. Der Boden war voller Abfälle und altem Gerumpel. Alle paar Schritte drohte einer von ihnen zu stolpern und zu stürzen.
»Die werden uns nicht weiter verfolgen«, keuchte Kaspar.
»Wie kommst du darauf?« fragte Sarai mühsam.
»Wieso sollten sie? Denen ist es gleichgültig, wenn wir uns anstecken. Ich glaube nicht, daß die das Viertel öfter betreten als unbedingt nötig - und ganz sicher nicht, um zwei wie uns zu verfolgen.«
Sarai schüttelte den Kopf. »In Sicherheit sind wir erst, wenn wir die Synagoge erreicht haben.« »Wegen des Engels?«
»Ja.«
Er beließ es dabei und fragte statt dessen: »Ist es weit bis dorthin?«
Sarai wartete mit der Antwort, bis sie das Ende des Einschnitts erreicht hatten. Die Straße, in die er mündete, kannte sie. »Nicht weit«, sagte sie. »Ich kenne eine Abkürzung durch die Höfe.«
Kaspar wollte sie auch weiterhin stützen, aber Sarai schob seinen Arm sanft beiseite. »Ich glaube, es geht wieder.« Und dankbar fügte sie hinzu: »Du hast mir das Leben gerettet.«
Er zuckte unsicher mit den Schultern und wußte nicht recht, was er darauf sagen sollte. Schließlich beließ er es bei einem scheuen Lächeln.
Sie liefen die nächtliche Straße hinunter bis zur nächsten Abzweigung. »Was ist mit dem Pferd?« fragte Sarai. »Und mit deiner Kanone?« »Der gute alte Ferdinand. Ich hoffe, irgend jemand
gibt ihm zu fressen. Er hat es verdient.« Es klang traurig. Kaspar hing an dem Tier wie an einem guten Freund. »Und was die Kanone angeht«, fügte er hinzu, »nun, ich hoffe, sie werden sie stehenlassen. Was sollen sie schon damit
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