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Der Schattengaenger

Der Schattengaenger

Titel: Der Schattengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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letzten Minuten deines Lebens.
    Der Gedanke war so groß und so furchtbar, dass er mich in ein kleines Häuflein Elend verwandelte. Ich dachte an meine Mutter, an Tilo und Merle. An Ilka und Mike irgendwo in Brasilien. Sie würden mir nichts mehr von ihrer Reise erzählen können. Ich dachte an Mina und an meine Großmutter, die ich so lange nicht mehr besucht hatte.
    Luke.
    Ich war ihm Erklärungen schuldig. Ich hätte nicht vor seinen Fragen weglaufen dürfen. Ich hätte zumindest versuchen müssen, Antworten zu finden.
    Der Wagen blieb stehen. Manuel schaltete den Motor aus. Ich konnte das akustische Signal einer sich schließenden Bahnschranke hören. Hungrig klammerte ich mich an jedes Geräusch, an jede Wahrnehmung.
    Der Fahrersitz knarrte. Manuel hatte sich zu mir herumgedreht.
    »Wo ist deine Mutter?«, fragte er, jedes Wort betonend.
    Ich hielt die Luft an.
    Meine Mutter.
    Das also war es, was er von mir wollte. Ich schloss die Augen. Etwas in mir hatte es die ganze Zeit gewusst.
     
    Imke wartete das Unwetter in einem Rasthof ab. Mit einem Cappuccino saß sie an einem Tisch am Fenster und starrte auf die unwirkliche Szenerie. Als hätte ein schwarzes Loch alles Licht geschluckt, dachte sie.
    Die Scheinwerfer der vorüberfahrenden Wagen waren gelbe Lichtkegel in der Finsternis. Seit Tagen schon wurde Sand aus der Sahara herübergeweht. Jetzt mischte er sich mit dem Regen. Bräunliche Tropfen liefen an den großen, schmutzigen Fensterscheiben herunter.
    Der Regen ließ so plötzlich nach, wie er begonnen hatte. Unmerklich kehrte das Licht zurück. Es war fahl und kränklich, gelb mit einem Stich ins Grünliche. So hatte Imke sich immer das Licht nach einer Nuklearkatastrophe vorgestellt.
    Sie wartete noch einen Moment, dann brachte sie die Tasse zur Geschirrrückgabe und nahm die unterbrochene Fahrt wieder auf. Noch eine halbe Stunde und sie würde die Mühle wiedersehen. Sie hielt es vor Sehnsucht kaum noch aus.
     
    Sie verhielt sich ruhig, zappelte nicht herum und versuchte nicht zu schreien. Hätte mit dem Knebel sowieso keinen Zweck gehabt.
    Schade. Sie war kein adäquater Gegner. Pardon: keine adäquate Gegnerin. Auch von sich selbst verlangte Manuel Präzision in der Wahl seiner Worte. Imke würde ihn nicht lieben können, wenn er sich ausdrückte wie einer dieser Freaks aus den Fernsehtalkshows.
    Die phänomenale Wolkenbank war vorbeigezogen. Der Himmel hatte sich wieder aufgehellt. Ob Imke das Naturschauspiel ebenfalls beobachtet hatte? Ob sie darüber schreiben würde?
    »Wo ist deine Mutter?«, wiederholte er leicht gereizt.
    Erst in diesem Augenblick fiel ihm ein, dass das Mädchen ja gar nicht antworten konnte. Okay. Sie hatten später noch Zeit, sich zu unterhalten. Als Erstes musste er sich ihren Kopf anschauen. Als er sie fesselte, hatte er Blut an ihren Haaren gesehen. Vielleicht hatte er ein klein wenig zu fest zugeschlagen.
    Das hätte auch schiefgehen können.
    Ab jetzt musste er aufpassen, dass ihm kein Patzer mehr unterlief. Er brauchte das Mädchen noch. Ein einziger Fehler, und alles konnte verloren sein.
    Es war immer noch kaum Verkehr auf den Straßen. Das kam ihm sehr gelegen. Am Wasser dürfte sogar noch weniger los sein. Bei Unwetter legte doch niemand ab. Da blieb man schön daheim und achtete darauf, dass der Keller trocken blieb.
    Manuel fing wieder an zu pfeifen. Er war ein Glückskind. Selbst der Gott der Himmelsstürme war auf seiner Seite.
     
    Draußen war es heller geworden. Durch die Kapuze schimmerte ein Hauch von Licht. Schweiß lief mir übers Gesicht. Obwohl ich so ruhig und tief wie möglich atmete, hatte ich Angst zu ersticken.
    Ich wehrte mich nicht gegen die Fesseln und den Knebel, um keine kostbare Kraft zu vergeuden. Was immer auf mich zukommen würde - ich wollte gewappnet sein, so gut es ging.
    Draußen hörte ich eine Möwe schreien.
    Eine Möwe. Hier?
    Wenn ich verrückt wurde, bevor er mich tötete, würde ich vielleicht gar nicht merken, dass ich starb.
     
    Das Haus stand fest verankert in der schönsten Landschaft, die Imke je gesehen hatte. Alles war noch da, der Wintergarten, die Scheune, der Zaun mit seinen schiefen Pfosten. Auf der Wiese grasten friedlich die Schafe. Die Muttertiere hatten ihre Jungen bei sich und Imke sah gerührt ihren eckigen Sprüngen zu.
    Alles war wie sonst. Als wäre Imke gar nicht weg gewesen.
    Nur der Bussard fehlte.
    Gerade über ihn hätte Imke sich besonders gefreut.
    Sie trug das Gepäck ins Haus und registrierte

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