Der Schattenprinz
Erde ist eine Kugel, wußtest du das?«
»Nein«, antwortete Tenaka.
»Sie ist es! Am oberen Ende der Kugelachse ist eine Welt aus Eis. Und am unteren Ende auch. Um die Mitte herum ist sie glühend heiß. Und die Kugel dreht sich um die Sonne. Wußtest du das?«
»Aulin, für solche Dinge habe ich keine Zeit. Was wolltest du mir sagen?«
»Bitte, Krieger, hör mich an. Ich wollte mein Wissen so gern teilen - es ist wichtig für mich.«
»Dann sprich weiter.«
»Die Welt dreht sich, und das Eis an den Enden der Achse wächst mit jedem Tag, Millionen Tonnen von Eis, jeden Tag, Jahrtausende lang. Zum Schluß beginnt die Kugel zu trudeln, dann kippt sie.
Und wenn sie kippt, steigen die Ozeane und überschwemmen das Land. Und das Eis breitet sich aus und bedeckt ganze Kontinente. Das ist der Niedergang. Das geschah mit den Älteren. Verstehst du? Es macht den Traum der Menschen zunichte.«
»Ich verstehe. Was willst du mir sagen?«
»Die Maschinen der Älteren - sie arbeiten nicht so, wie Ceska glaubt. Es gibt keine Verschmelzung von Mensch und Tier. Es ist eher ein Verschmelzen von Lebenskräften, die in einem schwankenden Gleichgewicht gehalten werden. Die Älteren wußten, daß es wichtig war - lebenswichtig - daß der Geist eines Menschen die Vorherrschaft behielt. Der Schrecken der Bastarde ist das Ergebnis, daß das Tier die Oberhand hat!«
»Wie kann mir dieses Wissen helfen?« fragte Tenaka.
»Ich habe einmal gesehen, wie ein Bastard zurückverwandelt wurde; er wurde wieder ein Mensch und starb.«
»Wie?«
»Er hat etwas gesehen, das ihn zutiefst erschütterte.«
»Was?«
»Die Frau, die einst seine Gefährtin war.«
»Stimmt das?«
»Natürlich! Ist das hilfreich?«
»Ich weiß nicht«, sagte Tenaka. »Vielleicht.«
»Dann werde ich dich jetzt verlassen«, sagte Aulin. »Ich kehre ins Grau zurück.«
Tenaka sah ihm nach, wie er in den Nebel schlurfte. Dann stand er auf und drehte sich um, als Ulric zu ihm trat.
»Der Krieg hat bereits begonnen«, sagte der Khan. »Du wirst nicht mehr rechtzeitig eintreffen, um deine Freunde zu retten.«
»Dann werde ich rechtzeitig da sein, um sie zu rächen«, antwortete Tenaka.
»Was wollte der alte Mann dir über den Niedergang erzählen?«
»Ich weiß nicht. Etwas über sich drehendes Eis. Es war nicht wichtig«, erklärte Tenaka.
Der alte Schamane bat Tenaka, sich zu setzen, und der neue Khan gehorchte. Die Augen fielen ihm zu. Als er sie wieder öffnete, saß er wie zuvor vor dem Grabmal, beobachtet von den Reihen der Nadirgeneräle. Zu seiner Linken lag Shirrat Sprechendes Messer - sein Brustkorb war aufgerissen, Blut rann in den Staub. Zu seiner Rechten lag Sattelschädel, an dessen Schläfe ein kleines Rinnsal Blut trocknete, vor ihm lag Ulrics Helm.
Asta Khan stand auf und wandte sich an die Generäle.
»Es ist vorbei, und es hat begonnen. Tenaka Khan herrscht über die Wölfe.«
Der alte Mann nahm den Helm, ging zu dem Kohlebecken, raffte seine zerfetzten Ledergewänder zusammen und verließ das Lager. Tenaka blieb, wo er war, betrachtete prüfend die Gesichter vor ihm und spürte deren Feindseligkeit. Diese Männer waren bereit zum Krieg, Anhänger von Sprechendes Messer und Sattelschädel. Nicht ein Mann unter ihnen hatte an Tenaka als Khan gedacht. Jetzt hatten sie einen neuen Führer, und von diesem Moment an mußte Tenaka stets wachsam sein. Seine Mahlzeiten mußten vorgekostet werden … sein Zelt bewacht. Unter diesen Männern gab es viele, die seinen Tod wünschten.
Und zwar schnell!
Es war einfach, Khan zu werden. Die wahre
Kunst bestand darin, anschließend am Leben zu bleiben.
Eine Bewegung in den Reihen erregte Tenakas Aufmerksamkeit. Ingis erhob sich und ging auf ihn zu. Er zog sein Schwert aus der Scheide und reichte es mit dem Griff voran Tenaka.
»Ich werde dein Mann«, sagte Ingis und kniete nieder.
»Willkommen, Krieger. Wie viele Brüder bringst du mit?«
»Zwanzigtausend.«
»Das ist gut«, sagte der Khan.
Einer nach dem anderen marschierten die Generäle nach vorn. Der Morgen dämmerte bereits, als der letzte sich zurückzog und Ingis noch einmal zu Tenaka kam.
»Die Familien von Sattelschädel und Sprechendes Messer wurden gefangen genommen. Sie werden in der Nähe deines Lagerplatzes festgehalten.«
Tenaka stand auf und reckte sich. Ihm war kalt, und er war sehr müde. Mit Ingis an seiner Seite entfernte er sich von dem Grabmal.
Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, um den Tod der Gefangenen
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