Der Schatz im Silbersee
sie eben erst von der Weide gekommen seien. Die Sonne sank tiefer und tiefer; endlich verschwand sie hinter dem Horizonte; die kurze Dämmerung ging schnell vorüber, und dann wurde es finstere Nacht. Das machte den Yankee bange.
»Wirst du dich bei dieser Finsternis nicht verirren?«
»Winnetou verirrt sich nie, weder bei Tag noch bei Nacht. Er ist wie der Stern, welcher sich stets an der richtigen Stelle befindet, und kennt alle Gegenden des Landes so genau, wie das Bleichgesicht die Räume seines Hauses kennt.«
»Aber es gibt so viele Hindernisse, welche man nicht sehen kann!«
»Winnetous Augen sehen auch des Nachts. Und was er nicht bemerken kann, wird seinem Pferde sicher nicht entgehen.
Mein Bruder reite nicht neben, sondern hinter mir, so wird sein Tier keinen falschen Schritt thun.«
Es war, auch wirklich fast wunderbar, mit welcher Sicherheit Pferd und Reiter sich bewegten. Bald im Schritt, bald im Trabe, oft sogar galoppierend, wurde Stunde um Stunde zurückgelegt und jedes Hindernis umgangen. Es waren sumpfige Stellen zu vermeiden und Bäche zu durchwaten; man kam an Farmen vorüber; stets wußte Winnetou, wo er sich befand, und nicht einen einzigen Augenblick lang schien er im Zweifel über die Örtlichkeit zu sein. Das beruhigte den Yankee ungemein. Er war besonders seines Armes wegen besorgt gewesen; aber das Wundkraut war von außerordentlicher Wirkung. Er fühlte fast gar keinen Schmerz und hatte sich über nichts als nur die Unbequemlichkeit des ungewohnten Reitens zu beklagen.
Einigemal wurde angehalten, um die Pferde trinken zu lassen und den Verband mit kühlendem Wasser zu benetzen. Nach Mitternacht zog Winnetou ein Stück Fleisch hervor, welches Hartley essen mußte. Sonst gab es keine Unterbrechung, und als die zunehmende Kühle den Morgen verkündete, sagte sich der letztere, daß er recht gut im stande sei, noch länger im Sattel zu sitzen.
Nun graute der Osten, doch waren die Linien des Terrains noch nicht zu erkennen, da ein dicker Nebel auf der Erde lag.
»Das sind die Nebel des Smocky-hill-flusses,« erklärte der Häuptling. »Wir werden ihn bald erreichen.«
Es war ihm anzuhören, daß er hatte weiter sprechen wollen, aber er hielt sein Pferd an und lauschte nach links hinüber, von wo taktmäßiger Hufschlag sich näherte. Das mußte von einem galoppierenden Reiter sein. Richtig, da kam er heran und flog vorüber, ventre à terre, blitzesschnell wie ein Phantom. Die beiden hatten weder ihn noch sein Pferd gesehen; nur sein dunkler, breitkrempiger Hut, welcher über dem dichten, am Boden hinkriechenden Nebelschwaden hervorragte, war für einen Augenblick sichtbar gewesen. Einige Sekunden später war der Hufschlag schon nicht mehr zu hören.
»Uff!« rief Winnetou überrascht. »Ein Bleichgesicht! So, wie dieser Mann ritt, können nur zwei Weiße reiten, nämlich Old Shatterhand, aber dieser befindet sich nicht hier, da ich oben am Silbersee mit ihm zusammentreffen will, der zweite ist Old Firehand. Sollte er sich jetzt in Kansas befinden? Sollte er es gewesen sein?«
»Old Firehand?« meinte der Yankee. »Das ist ein
hochberühmter Westmann.«
»Er und Old Shatterhand sind die besten und tapfersten, auch erfahrensten Bleichgesichter, welche Winnetou kennt. Er ist ihr Freund.«
»Der Mann schien es sehr notwendig zu haben. Wohin mag er wollen?«
»Nach Sheridan, denn seine Richtung ist die unsrige. Links liegt der Eagle-tail und vor uns befindet sich die Furt, welche über den Fluß führt. Wir werden sie in wenigen Minuten erreichen.
Und in Sheridan werden wir erfahren, wer dieser Reiter gewesen ist.«
Die Nebel begannen, sich zu zerteilen; sie wurden vom Morgenwinde auseinander getrieben, und bald sahen die beiden den Smocky-hill-fluß vor sich liegen. Auch hier bewährte sich die außerordentliche Ortskenntnis des Apachen. Er erreichte das Ufer genau an der Stelle, an welcher sich die Furt befand. Das Wasser reichte den Pferden hier kaum bis an den Leib, so daß der Übergang ein leichter und ganz ungefährlicher war.
Jenseits angekommen, hatten die Reiter ein Gebüsch, welches sich am Ufer hinzog, zu durchqueren und ritten dann wieder durch offenes Grasland, bis Sheridan, ihr Ziel, sich ihren Augen zeigte.
Neuntes Kapitel
List und Gegenlist
Sheridan war in der Zeit, in der unsre Erzählung spielt, weder Stadt noch Ort, sondern nichts als eine ambulante Niederlassung der Bahnarbeiter. Es gab da eine Menge von Stein-, Erd- und Blockhütten, höchst primitive
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