Der Schatz von Blackhope Hall
nicht, was sie tut. Wenn sie's richtig findet, die Hausparty zu besuchen, genügt es uns. Nicht wahr, Mama?"
"Ganz recht, Kyria." Mit strenger Miene wandte sich die Duchess an ihren Sohn. "Olivia ist eine erwachsene Frau, Reed, und durchaus fähig, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ohne sich vor den männlichen Familienmitgliedern verantworten zu müssen."
"Ja, natürlich, Mutter." Reed schaute Kyria missmutig an. "Wenn es um dich ginge, würde ich kein Wort darüber verlieren."
"Lügner!" konterte sie.
"Sei nicht respektlos, Kyria", tadelte die Duchess.
"Liv ist nicht so erfahren wie Kyria", gab Reed zu bedenken.
"Aber auch nicht dumm!" fauchte Olivia. "Ob jemand ein Schurke ist oder nicht, kann ich vermutlich feststellen." Sie hätte der Familie gern verraten, dass sie diese Reise aus beruflichen Gründen unternahm. Doch sie erinnerte sich an die Diskretion, die sie dem Earl zugesichert hatte. Ihrem Bruder Reed vertraute sie rückhaltlos. Kein Sterbenswörtchen würde er ausplaudern. Was die anderen betraf, hegte sie gewisse Zweifel. Wenn sie auch keine Klatschmäuler waren – ihre Mutter interessierte sich nicht für gesellschaftliche Rücksichten, und der Vater neigte zur Zerstreutheit. Also würden sie womöglich vergessen, dass sich ihre Tochter zum Stillschweigen verpflichtet hatte. Außerdem würden sie miteinander darüber reden, vielleicht in der Gegenwart neugieriger Dienstboten. Dann würden sich Lord St. Legers Schwierigkeiten bald in der ganzen Stadt herumsprechen. Und so behielt sie für sich, warum er sie eingeladen hatte. Außerdem – warum sollte sie ihre Verwandten nicht im Glauben lassen, ein Gentleman hätte Gefallen an ihr gefunden? Diesen Gedanken fand sie sogar erfreulich.
"So habe ich's nicht gemeint, Livvy", verteidigte sich Reed.
"Dass die St. Legers Schurken sind, habe ich nie gehört." Plötzlich ergriff Großonkel Bellard zur allgemeinen Überraschung das Wort. "Eine alteingesessene Familie, deren Adelstitel aus der Zeit Königin Elisabeths I. stammt. Oder hat man ihnen den Titel während der Regentschaft von Heinrich VIII. verliehen? Jedenfalls wurde der Titel stets in direkter Linie vererbt. Um die St. Legers ranken sich einige Legenden. Im Augenblick entsinne ich mich nicht genau – aber ich glaube, einer der Earls versteckte König Charles vor den Puritanern. Da werde ich mal nachschauen", versprach er, erfreut über eine neue Gelegenheit zu historischen Studien. "Wenn mich nicht alles täuscht, heißt der Familiensitz der St. Legers Blackhope Hall."
"Oh …" Kyria zog die Brauen hoch. "Wie unheimlich das klingt!"
"Anscheinend liest du zu viele Schauerromane", meinte die Duchess missbilligend. "Auf diesem Landgut wird alles mit rechten Dingen zugehen. Da bin ich mir völlig sicher. So manche alte Häuser haben seltsame Namen. Nicht wahr, Onkel Bellard?"
"In der Tat", stimmte er eifrig zu.
"Also, ich finde, 'Blackhope' beschwört romantische Visionen herauf", verkündete Kyria. "In solchen Mauern kann man sich Hals über Kopf verlieben …"
"Hoffentlich nicht!" rief die Duchess und wandte sich besorgt ihrer jüngsten Tochter zu.
"Keine Bange, mir wird das nicht passieren." Vorwurfsvoll starrte Olivia ihre Schwester an.
"Wohl kaum", seufzte Kyria resignierend. "Trotzdem wirst du vielleicht eine Eroberung machen. Nach dem Dinner gehen wir in dein Zimmer und begutachten deine Garderobe. Zweifellos finden wir irgendetwas, das Joan ein bisschen modernisieren könnte."
"Nein, das möchte ich nicht."
"Unsinn!" entschied Kyria. "Ob es dir passt oder nicht – du verdienst ein paar elegantere Kleider."
Olivia unterdrückte ein Stöhnen. Sollte sie sich stundenlange Klagen über den grauenhaften Inhalt ihres Schranks anhören? Aber da sie ihre willensstarke Schwester kannte, war jeder Protest sinnlos. Widerstrebend fügte sie sich in ihr Schicksal und folgte Kyria die Treppe hinauf, nachdem die Familie die Mahlzeit beendet hatte.
"Wieso kann ich mich nicht so anziehen, wie ich es gewohnt bin?" jammerte sie.
Die Nase ausdrucksvoll gerümpft, ließ Kyria den Blick über Olivias schlichtes braunes Kleid wandern. "In Blackhope findet eine Hausparty statt. Da kannst du nicht so auftreten wie eine Gouvernante."
"Ich will den Earl doch gar nicht einfangen", erwiderte Olivia.
"Warum fährst du dann hin?"
Unbehaglich wich Olivia den klaren grünen Augen ihrer Schwester aus. "Nun ja, Lord St. Leger und ich – wir sind Freunde."
"Das musst du ändern." Kyria zog am
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