Der Schatz von Blackhope Hall
auflauern und ihm folgen?"
"Was für eine ausgezeichnete Idee!" stimmte sie begeistert zu.
Kurz entschlossen stiegen sie die Treppe hinauf. Auf leisen Sohlen eilten sie den Flur im ersten Stock entlang, an Mr. Babingtons Zimmer vorbei. Schräg gegenüber stieß Stephen lautlos eine Tür auf und betrat mit Olivia einen unbenutzten Raum. Staubschoner lagen über den Möbeln, die Luft war kühl an diesem späten Augustabend.
Nur durch die Tür, die einen Spaltbreit offen stand, fiel schwaches Licht herein. Stephen rückte einen Stuhl für Olivia zurecht. Langsam verstrichen die Minuten, und sie fragte sich, ob sie zu spät vermutet hatten, Mr. Babington würde in den Garten gehen. Oder hatte er den Geist gar nicht gespielt? Sie erschauerte in der nächtlichen Kälte und wünschte, sie hätte einen Schal aus ihrem Zimmer geholt, bevor sie hierher gekommen war. In ihrem tief ausgeschnittenen Abendkleid fror sie erbärmlich.
Fürsorglich zog Stephen sein Jackett aus, legte es ihr um die Schultern, und sie schaute überrascht zu ihm auf. In das elegante Jackett gehüllt, spürte sie seine Körperwärme, roch seinen angenehmen maskulinen Duft. Sie musste wieder an den Kuss denken. Und als sie sein Gesicht betrachtete, erkannte sie plötzlich, dass er sich ebenfalls daran erinnerte. Ihr Atem beschleunigte sich. Zögernd stand sie auf.
Im selben Augenblick hörte sie ein leises Klicken – auf der anderen Seite des Flurs wurde eine Tür geschlossen. Hastig drehte sie sich um und spähte durch den Türspalt. Auf Zehenspitzen ging Howard Babington den Korridor hinab.
"Da ist er", flüsterte sie, und Stephen öffnete die Tür etwas weiter, um hinauszugucken.
Wenige Sekunden später verließen sie das Zimmer und folgten Mr. Babington in sicherer Entfernung, mit leisen Schritten. Am Treppenabsatz blieben sie stehen und beobachteten, wie er die Halle durchquerte und in den Korridor schlich, der zum Wintergarten und zum Hinterausgang führte. Da Stephen sich besser im Haus auskannte, stieg er zuerst die Stufen hinab, und Olivia blieb ihm auf den Fersen. Ein paar Wandleuchten illuminierten die Halle. Doch die Dochte waren herabgedreht und spendeten nur trübes Licht.
Bevor Olivia und Stephen den Korridor erreichten, in dem Mr. Babington verschwunden war, erschien eine Frau in der Halle. Abrupt hielten sie inne und starrten sie an.
Sie trug ein langes, schmal geschnittenes Kleid mit einem goldenen Kettengürtel um die Hüften, das Haar unter einem Schleier verborgen, der an einer kleinen Kappe hing. Ohne Olivia und Stephen zu beachten, ging sie an ihnen vorbei zu einer Wand – und hindurch.
6. Kapitel
Erschrocken schrie Olivia auf, trat näher zu Stephen, und er nahm sie in die Arme. Eine Zeit lang standen sie reglos da und spähten zu der Stelle hinüber, wo die Frau verschwunden war.
"Verdammt", fluchte er leise, "was war das?"
Da ihr die eigene Stimme nicht mehr gehorchte, schüttelte sie nur den Kopf. Zitternd schmiegte sie sich an Stephen, und er umfasste sie noch fester. Dann schauten sie einander an und merkten, in welch verfänglicher Situation sie sich befanden – mitten in der Halle, für jeden sichtbar, der zufällig hinunterblicken mochte.
Verlegen ließen sie einander los. Olivia fröstelte, obwohl Stephens Jackett ihre Schultern umhüllte, und sie wünschte, er würde sie wieder an seine Brust ziehen.
"Hast du das gesehen …", begann er, unterbrach sich und suchte nach Worten.
"Diese Frau? Ja."
"Ist sie tatsächlich durch die Wand gegangen?" fragte er ungläubig.
Olivia nickte.
"Wenigstens weiß ich jetzt, dass ich nicht verrückt bin. Oder wir haben beide den Verstand verloren." Er ging zu einem Tisch und ergriff eine Kerze, entzündete sie an einer Wandleuchte und eilte zu der Stelle, wo die Frau verschwunden war. Warum Olivia ihm folgte, wusste sie nicht genau. Aus Neugier? Oder weil sie nicht mitten in dem großen Raum allein bleiben wollte?
Langsam ließ er den Kerzenschein über die Wand wandern, von einer Seite zur anderen, von oben nach unten, auf der Suche nach einer Ritze oder Öffnung. Olivia erschauerte.
"Seltsam, wie kalt es ist …", murmelte er und beobachtete erstaunt seinen Atem, der sekundenlang wie Nebel in der Luft hing.
So kalt dürfte es in einer Augustnacht nicht sein. Verwirrt hob Olivia eine Hand, als wollte sie verscheuchen, was sie soeben gesehen hatte. Sie entfernten sich von der Wand, bis sie eine Stelle erreichten, wo sie nicht mehr froren.
"Nun könnten wir
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