Der Schatz von Blackhope Hall
Mann nicht gesehen. Was er ausstrahlte, erschien mir wie der Gifthauch aller Höllenflammen. Nicht nur Eifersucht oder Wut. Wie ich es genau beschreiben soll, weiß ich nicht. Jedenfalls fühlte ich mich elend."
"Das ist mir nicht entgangen." An den Schreibtisch gelehnt, streckte er die Beine aus und musterte Olivia. Allmählich kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück. "Was geschieht mit uns?"
"Wenn ich das bloß wüsste …", erwiderte sie. "Nie zuvor habe ich so etwas erlebt. Was bedeuten diese Visionen, die mich immer wieder heimsuchen? Und warum sehe ich sie? Hättest du nicht von ähnlichen Dingen geträumt, müsste ich befürchten, verrückt geworden zu sein."
"Das bist du nicht", versicherte er, ergriff ihre Hand und drückte sie besänftigend.
Unsicher schaute sie ihn an, und plötzlich schimmerten Tränen in ihren Augen.
Stephen zog sie auf die Beine und umarmte sie. "Nein, du darfst nicht weinen. Nichts von alldem ist deine Tränen wert."
Olivia legte den Kopf an seine Brust. Erstaunlich, dachte sie, inzwischen finde ich seine Nähe ganz selbstverständlich … Und es tat so gut, seine Kraft zu spüren, die ihre eigene Seele stärkte. Allmählich gewöhnte sie sich an die allabendlichen Gespräche in seinem Arbeitszimmer, an die gemeinsamen Mahlzeiten, an die Spaziergänge durch den Garten.
Wie albern, sagte sie sich. Bald würde sie abreisen und in ihr normales Leben zurückkehren – ein Leben, das er nicht teilte. Dann wäre sie wieder auf sich selbst gestellt. Nur Tom Quick würde ihr helfen, ihre Interessen zu verfolgen. Sie könnte nicht mehr mit Stephen über die Ereignisse des Tages sprechen, würde sein Lächeln nicht mehr sehen, seine Zärtlichkeiten nicht mehr genießen …
Entschlossen schluckte sie ihre Tränen hinunter und schalt sich eine Närrin. Sie befreite sich von seinen Armen, kehrte ihm den Rücken zu, wischte verstohlen eine Träne von ihrer Wange. Nun musste sie endlich aufhören, sich wie ein dummes Kind zu benehmen.
"Verzeih mir …" Ihre Stimme klang belegt, und sie räusperte sich. "In meinen Schläfen pocht es schmerzhaft, deshalb fühle ich mich geschwächt. Normalerweise breche ich nicht so leicht in Tränen aus."
"In den letzten Tagen hast du einiges durchgemacht", entgegnete Stephen. "So wie wir alle."
"Gewiss, das zerrt an meinen Nerven", gab sie zu. "Was ich in diesem Haus sehe und spüre, widerspricht allem, woran ich glaube. Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass die Visionen real sind, dass es Geister gibt !" Stöhnend wandte sie sich zu Stephen um, die Augen groß und umschattet. "Ich habe schon an vielen Séancen teilgenommen. Bei keiner einzigen erschien ein richtiger Geist. Niemals hatte ich so eigenartige Träume, und ich sah auch keine Menschen, die nicht wirklich da waren. Nicht nur das – ich lese sogar ihre Gedanken, und ich weiß, was in ihren Herzen vorgeht."
"Dafür finde ich keine Erklärung."
"Ich auch nicht. Obwohl ich nicht daran glaube. Nehmen wir einmal an, Madame Valenskaya ist eine geübte Hypnotiseurin – oder Irina oder Mr. Babington sind darin bewandert. Und gehen wir davon aus, ein Experte könnte jemanden glauben machen, etwas zu sehen, das nicht existiert, oder ganz bestimmte Träume heraufbeschwören. Falls dies alles möglich wäre, müsste einer dieses Trios auch imstande sein, uns zu hypnotisieren, ohne dass wir es bemerken."
"Also gut, setzen wir all diese unwahrscheinlichen Dinge voraus", entschied Stephen.
"Das wirft andere Fragen auf. Wann und wo wurden wir hypnotisiert? Zum ersten Mal hast du in London von diesem Liebespaar geträumt – bevor Madame Valenskaya hierher kam, bevor du sie überhaupt kanntest. Stimmt das?"
"Ja."
"Seit unserer Ankunft in Blackhope sind ständig Leute in unserer Nähe, die Familie, die Gäste, die Dienstboten. Wie konnten wir hypnotisiert werden, ohne dass es irgendjemandem auffiel? Es sei denn, es geschieht in der Nacht, wenn wir schlafen. Und die vielen Einzelheiten in den Träumen – Worte und Emotionen, die Kleidung der Menschen, das Kästchen und sein Inhalt … Wie ist es möglich, so zahlreiche Details in unsere Gehirne zu pflanzen?"
"Unvorstellbar", meinte Stephen.
"Selbst wenn sich dies alles irgendwie erklären ließe, gibt es immer noch ein Problem. Wie konnte ich wissen, wie die Kassette aussieht und was sie enthält? Nie zuvor habe ich sie betrachtet, Madame Valenskaya oder die beiden anderen kennen sie ebenso wenig. Trotzdem sah ich in meinem Traum, wie groß die
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