Der Schatz von Blackhope Hall
mich für schwach und dumm."
"Nein, natürlich nicht. Bisher hatte ich diesen Eindruck nicht ein einziges Mal."
"In diesem Raum konnte ich nicht bleiben – das Grauen ist zu stark gewesen. Ganz deutlich nahm ich die Anwesenheit des Mannes wahr. Sobald ich die Kammer betreten hatte, war es mir unmöglich weiterzugehen. Er drohte mich zu ersticken …" Schaudernd verstummte sie und fror bis auf die Knochen.
"Komm, ich bringe dich in dein Zimmer." Stephen erhob sich und zog sie auf die Beine.
Einen Arm um ihre Taille geschlungen, führte er sie den Korridor entlang und öffnete ihre Tür. Auf einer Sessellehne sah er einen Schal hängen, den er ihr um die Schultern legte.
Milde Luft erfüllte das Zimmer. Trotzdem zitterte Olivia noch immer. Stephen half ihr, auf der Bettkante Platz zu nehmen, öffnete eine Truhe und entnahm ihr eine leichte gestrickte Decke. Fürsorglich hüllte er sie in die weiche Wolle. Dann setzte er sich zu ihr, drückte sie an sich, und seine Körperwärme vertrieb die Kälte aus ihren Gliedern.
"Es tut mir so Leid …", begann sie.
"Unsinn", unterbrach er sie lächelnd, "ich genieße deine Nähe."
Da lachte sie leise und entspannte sich in seinen Armen. Endlich verflog ihre Anspannung. Nach einer Weile bemerkte sie eine Bewegung, guckte durch die offene Tür und hielt den Atem an.
Irina stand im Flur und beobachtete die Szene, ohne mit der Wimper zu zucken.
Als Stephen spürte, wie Olivia sich versteifte, wandte er den Kopf ebenfalls zur Tür.
Eine Zeit lang starrten die drei einander einfach nur an, bis der Earl aufstand und die Tür vor Irinas Nase zuschlug.
"Oh Stephen!" rief Olivia teils erschrocken, teils belustigt. "Miss Valenskaya hat uns in einer kompromittierenden Situation ertappt. Und soeben hast du alles noch schlimmer gemacht."
Gleichmütig zuckte er mit den Schultern. "Soll ich etwa dulden, dass man mir in meinen eigenen vier Wänden nachspioniert?"
"Was wird sie den anderen erzählen?" seufzte Olivia und streifte die Wolldecke ab.
"Das interessiert mich nicht." Er kehrte zu ihr zurück und umfasste einen Bettpfosten. "Geht es dir jetzt besser?"
"Ja, ich denke schon. Was für ein seltsamer Tag! Irgendwie komme ich mir wie ein anderer Mensch vor …" Nach kurzem Zaudern fuhr sie fort: "Meine Großmutter pflegte zu behaupten, sie würde mit meinem verstorbenen Großvater und ihren toten Eltern sprechen. Immer wieder erklärte sie uns, sie könne gewisse Ereignisse voraussehen. Damit jagte sie mir eisigen Schrecken ein." Sie blickte ihn kurz von der Seite an. "Von allen Familienmitgliedern verdiente sie am ehesten die Bezeichnung 'verrückte Moreland'."
"Olivia …"
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. "Lass mich ausreden. Kyria und Reed und die anderen lachten stets über die Leute, die uns für verrückt hielten. Aber ich fand das furchtbar – weil ich mich fragte, ob meine Großmutter tatsächlich den Verstand verloren hatte. Sie war eine Xanthippe, die uns alle herumkommandierte, und der arme Großonkel Bellard hatte grässliche Angst vor ihr. Eines Tages sagte sie mir, ich würde ihr ähneln, ebenfalls das zweite Gesicht besitzen und Dinge sehen oder hören, die gewöhnlichen Menschen verborgen blieben. Das beunruhigte mich, und ich wollte es nicht glauben. Entschlossen klammerte ich mich an die Stimme der Vernunft, die mir zuflüsterte, das sei absurd. Aus diesem Grund begann ich die Medien zu beobachten und ihre Tricks zu erforschen."
"Du wolltest also beweisen, so etwas sei unmöglich?"
Olivia nickte. "Vor allem wollte ich mir selbst beweisen, dass ich nicht nach meiner Großmutter geraten würde. Und jetzt …"
"So bist du nicht", erwiderte Stephen in entschiedenem Ton. "Was immer du auch gesehen hast, du bist nicht wahnsinnig. Und gewiss keine Xanthippe, sondern eine kluge, amüsante, mitfühlende und sehr bemerkenswerte Frau. Übrigens, das habe ich dir schon einmal erzählt. Erinnerst du dich?"
"Oh ja", antwortete sie lächelnd, und er setzte sich wieder zu ihr.
Unbewusst neigte sie sich ihm zu, und seine Lippen streiften ihren Mund. "Wenn ich noch länger hier bleibe", murmelte er heiser, "werde ich dich wirklich in eine kompromittierende Situation bringen."
Nach einem letzten, zärtlichen, aber fast keuschen Kuss verließ er das Zimmer. Seufzend streckte sich Olivia auf dem Bett aus. Sogar dieser flüchtige Kuss hatte ein Feuer in ihr entzündet. Und wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass es ihr nichts ausgemacht hätte,
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