Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
genoss.
»Wir waren auf Streife am Oberhafen, Offiziant Boysen. Da kam uns ein ganzer Schwarm Schauerleute entgegen. Die Buttjes hatten Schichtende, wollten zu den Barkassen. Plötzlich entdeckt uns der große Russe. Er ragte zwischen den anderen Männern heraus wie ein Turm in der Schlacht. Sie haben ja gesehen, was für ein langer Lulatsch das ist. Jedenfalls nimmt er die Beine in die Hand, sobald wir auf ihn zukommen. Wir denken uns, wenn er beim Anblick von Udels wegläuft, hat er etwas zu verbergen. Also rennen wir hinter ihm her, obwohl uns die anderen Schauerleute im Weg stehen. Sie kennen ja das Pack, die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Jedenfalls holt der Kerl mit seinen langen Beinen einen gewaltigen Vorsprung heraus. Aber dann rutscht er im Dreck aus. Und bevor er wieder hochkommt, sind wir bei ihm. Hat uns übel zugesetzt, der Bursche. Aber jetzt steckt er ja im Sack.«
Boysen nickte gedankenverloren. Die getrockneten Blutflecken auf der Joppe des Russen waren wirklich nicht zu übersehen. Der Offiziant wollte so schnell wie möglich mit dem Verhör beginnen. Aber der Russe war offenbar der deutschen Sprache nicht mächtig. Als sie bei der Brooktor-Wache angekommen waren, schickte Boysen einen seiner Männer zur Russischen Botschaft, um erneut einen Dolmetscher zu holen.
Während der Offiziant wartete, trank er Muckefuck und kaute die mitgebrachten Butterbrote, die seine Vermieterin ihm morgens zurechtgemacht hatte.
Ob Fräulein Anna Dierks den Mann wohl wiedererkennen würde? Sie hatte schließlich mit dem mutmaßlichen Mörder gerungen und ihm den Manschettenknopf entrissen.
Dieses verfluchte Corpus Delicti.
Der Gedanke an das goldene Kleinod in seiner Tasche verschlechterte Boysens Laune schlagartig. Der Offiziant war immer noch sicher, dass die Familie Lütke etwas zu verbergen hatte. Bei seinem Besuch in der Blankeneser Villa hatte Boysen mit keiner Silbe erwähnt, dass Carl Lütke in irgendeiner Form verdächtig war. Trotzdem hatte der Vater des Knaben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um seinen Sohn vor der Polizei abzuschirmen. Boysen hatte immerhin eine regelrechte Order vom Inspector bekommen, diese Spur nicht weiter zu verfolgen. Etwas Verdächtigeres konnte es nach Boysens Meinung gar nicht geben.
Und wenn nun doch der rabiate riesige Russe der Schuldige war?
Der Offiziant zündete sich nach seiner bescheidenen Mittagsmahlzeit eine Zigarette an. Als Boysen gerade die Kippe ausdrückte, erschien der Dolmetscher auf der Brooktor-Wache. Es handelte sich um denselben eleganten Herrn von der Botschaft, der schon am Vortag die Befragung des Polen ermöglicht hatte. Falls es ihm unangenehm war, dass schon wieder ein Bürger des Russischen Reiches in eine Straftat verwickelt war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Boysen wusste, dass in Russland die Kluft zwischen den hohen Herren und dem Volk noch viel größer war als in Hamburg. Im Vergleich dazu hatte der reiche Reeder Lütke ihn, Boysen, beinahe kameradschaftlich behandelt.
Der Botschaftssekretär grüßte den Offizianten mit einer knappen Verbeugung. Boysen setzte sein Gegenüber kurz über die Umstände der Verhaftung ins Bild. Dann begaben sich Boysen, der Dolmetscher und Constabler Sattmann in den Zellentrakt.
Die Udels hatten sich immer noch nicht getraut, dem Hünen die Fußfesseln abzunehmen, von den Handschellen ganz zu schweigen. Die Uniformierten hatten den Mann einfach auf die Holzpritsche der Arrestzelle gelegt. Offenbar schien der Verdächtige seine momentane Lage recht angenehm zu finden. Vielleicht war er auch einfach bloß völlig erschöpft. Jedenfalls schlief er tief und fest. Seine Augen waren geschlossen, die Atemzüge kamen regelmäßig.
»Das ist das Einzige, was der Pöbel kann«, meinte der Botschaftssekretär verachtungsvoll. »Schlafen und Ärger machen.«
Boysen zuckte mit den Schultern. »Ihr Landsmann wird seinen Schönheitsschlaf unterbrechen müssen.«
Mit diesen Worten stieß der Offiziant seinen Dienststock leicht zwischen die Rippen des Riesen. Dieser erwachte mit einem gefährlichen Knurren, das an die Laute eines verwundeten Raubtieres erinnerte.
Boysen schaute dem Mann ins Gesicht. Es war ein archaisches Antlitz, das genauso gut zu einem Steinzeitkrieger hätte gehören können. Ein wilder, struppiger und ungepflegter Bart bedeckte den größten Teil der Gesichtshaut, die selten Bekanntschaft mit Wasser und Seife zu machen schien. Der Mann verströmte einen penetranten
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