Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Gestank. Boysen war von den armen Teufeln des Gängeviertels einiges an Geruchsbelästigung gewohnt, aber der riesige Russe stellte alles in den Schatten. Die Ausdünstungen stammten teilweise gewiss von dem getrockneten Blut auf seiner Kleidung, ansonsten von seinem Körper sowie den schwarzen verfaulenden Zahnruinen in seinem Mund. Boysen seufzte und klappte seinen Notizblock auf. Das Verhör begann, wobei der Dolmetscher jede Frage und Antwort übersetzte.
»Ich bin Offiziant Boysen vom Constabler Corps der Stadt Hamburg. Wie lautet dein Name?«
Der Riese spie einige Worte hervor. Der Mann von der Botschaft zögerte.
»Was hat er gesagt?«, fragte Boysen.
»Dieses ungehobelte Stück Vieh ... äh, Herr Offiziant, er sagte, Sie können ihn ... Sie wissen schon, etwas Vulgäres ...«
»Ja, ich weiß schon.« Boysen war es gewohnt, beschimpft, angespuckt und geschlagen zu werden, weil er in Hamburg das Gesetz vertrat. So schnell ließ er sich nicht ins Bockshorn jagen.
»Du hast zwei Möglichkeiten, Bursche. Entweder wirst du für Verbrechen hängen, die du gar nicht begangen hast. Oder du sagst mir alles, was du weißt. Dann kann ich dir helfen – vielleicht.«
Boysen konnte selbst nicht sagen, warum er sozusagen den Stier gleich bei den Hörnern packte. Innerlich glaubte er nicht daran, den irren Frauenzerfleischer vor sich zu haben. Der Russe war zweifellos ein brutaler Gewaltmensch, aber die Spur mit dem Manschettenknopf passte überhaupt nicht zu ihm. Außerdem war der Täter bisher immer als Schauermann von durchschnittlicher Größe beschrieben worden. Der riesenhafte Wuchs des Russen hätte den Zeugen auffallen müssen.
Nachdem der Dolmetscher Boysens Worte übersetzt hatte, ließ der Offiziant das zerklüftete Gesicht des Verdächtigen nicht mehr aus den Augen.
Immerhin schien der Mann über das Gesagte nachzudenken. Sein Blick zeigte eine Mischung aus Misstrauen und Bauernschläue, jedenfalls nach Boysens Meinung. Letztlich konnte man niemals wissen, was im Inneren eines anderen Menschen vor sich ging. Darüber machte sich der Offiziant keine Illusionen. Nach einer Weile, die Boysen wie eine halbe Ewigkeit vorkam, öffnete der Gefangene seinen Mund. Der Geruch von Fäulnis wurde beinahe unerträglich.
»Mein Name ist Sergej Golodin, Exzellenz. Geboren in dem Dorf Shigansk, Bezirk Jakutsk, im Reich unseres geliebten Zaren Alexander III.«
Boysen nickte befriedigt. Ein Mann wie Golodin pflegte zweifellos alle Respektspersonen mit Exzellenz anzureden. Aber das war dem Hamburger egal. Er spürte nur, dass er innerlich ein wenig zu dem Russen durchdringen konnte.
»In Ordnung, Golodin. Kannst du dir denken, warum wir dich verhaftet haben?«
»Weil Sie keine Fremden in der Stadt haben wollen.«
Boysen blinzelte. Glaubte Golodin wirklich, dass dies der Grund war? Der Russe machte nicht den Eindruck, als ob er zu einer intellektuellen Spiegelfechterei in der Lage wäre. Aber das konnte täuschen.
»Nein, das ist nicht der Grund. Erzähle mir, warum du nach Hamburg gekommen bist, Golodin!«
»Das Unglück ist über unsere Familie hereingebrochen, Exzellenz. Es gab viele Missernten im Bezirk, die Bauern hatten keine Kopeke mehr in der Tasche, konnten ihre Rechnungen nicht zahlen. Der Vater besaß eine Schlachterei, aber er ist an der Schwindsucht gestorben. Da hat die Mutter beschlossen, dass wir nach Amerika gehen, sie und alle Kinder. Doch das Geld hat nicht gereicht, nicht für uns alle. Da haben sich nur die Mutter und meine fünf anderen Geschwister nach New York eingeschifft. Ich bin hier geblieben, um mir das Geld für meine Überfahrt zu verdienen.«
Das klang einleuchtend, für Boysens Geschmack sogar ein wenig zu glatt. Das Leben erzählte nicht oft gradlinige Geschichten, wie er aus Erfahrung wusste. Der Offiziant hakte nach.
»Und wo hast du gearbeitet? Im Hafen?«
Golodin schüttelte den Kopf. »Nein, Exzellenz. Ich habe es versucht, aber es gibt keine Arbeit, nicht für Ausländer. Sie hätten mich höchstens in den Dampfkesseln arbeiten lassen. Aber das konnte ich nicht, weil ich dort nicht reingekommen bin.«
Boysen nickte. Das stimmte gewiss, denn mit seinen breiten Schultern hätte sich der Russe niemals durch das Mannloch eines Dampfkessels zwängen können. Außerdem traf es zu, dass die Schauerleute keine Ausländer in ihren Reihen wollten, die für Hungerlöhne schufteten. Die Hafenarbeiter waren größtenteils gewerkschaftlich organisiert und wachten eifersüchtig über ihre
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