Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
für Sie abgeschlossen, mein guter Boysen. Die Menschen sind in Aufruhr. Wir müssen verhindern, dass in der Stadt das Chaos ausbricht, nicht wahr?«
Boysen nickte gottergeben. Wenn er seinen Rang behalten wollte, dann gab es jetzt nur eine mögliche Antwort. Der Offiziant hasste sich selbst für seine Feigheit. Aber er sagte: »Jawohl, Herr Inspector.«
6. Kapitel: Der Tod geht um
Boysen brauchte dringend eine Verschnaufpause. Der Rest des Tages verging wie ein Fiebertraum. Golodin wurde in das zentrale Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis geschafft. Beim Abtransport warf der Gefangene dem Offizianten einen Blick zu, der so viel bedeuten konnte wie: Ich wusste sowieso, dass du nichts für mich tun würdest.
Boysen fühlte sich hundsmiserabel. Er raffte sich immerhin dazu auf, den Landsmann von Golodin in der Silbersackstraße aufzusuchen. Der dort lebende Russe konnte leidlich deutsch radebrechen, daher benötigte der Offiziant diesmal keinen Dolmetscher. Bereitwillig zeigte der Kerl Boysen den Strohsack, auf dem Golodin angeblich geschlafen hatte. Dort fand sich ein Schlachtermesser-Besteck, außerdem ein Bündel mit Habseligkeiten. Einen Manschettenknopf entdeckte Boysen natürlich nicht. Aber das hatte er auch nicht erwartet.
»Weißt du, wo sich dein Untermieter herumgetrieben hat?«, fragte der Udel den Russen. Dieser schüttelte den Kopf.
»Immer arbeiten, Exzellenz. Immer weg. Nix wissen.«
Boysen nickte. Selbst wenn dieser Mann Golodin für die Tatzeit der Morde ein Alibi geben konnte – der Staatsanwalt würde die Aussage als Freundschaftsdienst unter unerwünschten Ausländern abtun. Wirkliches Gewicht hatte sie in einem Mordprozess nicht.
Die Cholera wütete immer noch in Hamburg. Jeden Tag gab es Neuerkrankungen, und die Totengräber arbeiteten im Akkord. Die Menschen hatten Sorgen und suchten nach einem Sündenbock. Vor diesem Hintergrund war eine Anklage gegen den riesigen Russen genau das Richtige, um das Volk abzulenken. Der finstere Golodin eignet sich prächtig für die Schurkenrolle in einer Schmierenkomödie vor Gericht , dachte Boysen gehässig.
Endlich war der Dienst zu Ende. Der Offiziant verließ die Brooktor-Wache. Ein milder Wind wehte von der Elbe her. Für Momente konnte man den allgegenwärtigen Geruch von Karbol und anderen Desinfektionsmitteln vergessen. Boysen lief ziellos durch die Hafengassen. Er hatte nicht vor, in sein möbliertes Zimmer zu gehen und dort die Wände anzustarren. Und nach einem Rum in einer Seemannskneipe stand ihm auch nicht der Sinn.
Wie in Trance bestieg Boysen eine Pferde-Straßenbahn. Es zog ihn nach Blankenese. Zwar hatte ihm sein Vorgesetzter ausdrücklich verboten, gegen Carl Lütke zu ermitteln. Aber der Offiziant hatte nun dienstfrei, er musste erst am nächsten Morgen um 8:00 Uhr wieder in der Brooktor-Wache antreten. Was er in seinem Privatleben machte, war seine Angelegenheit.
Langsam ging Boysen am Grundstück der Reeder-Familie vorbei. Die Sinnlosigkeit seines Tuns wurde ihm mit jedem Schritt bewusster. Sollte er sich vielleicht irgendwo in die Büsche schlagen und darauf warten, dass Carl Lütke aus der Villa kam? Wenn das der Fall war, dann ließ sich der junge Herr garantiert in einem Dogcart oder einer anderen Kutsche durch die Gegend chauffieren. Oder? Möglicherweise war alles ganz anders. Wenn nun Carl Lütke wie ein Dieb in der Nacht aus dem Haus schlich, weil er sich im Gängeviertel mit den Mädchen vergnügen wollte ...?
Boysen wusste nicht, was er tun sollte. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee gewesen, sich zu betrinken , dachte er sich. Doch in dieser hochherrschaftlichen Wohngegend gab es weit und breit keine Kneipe. Der Offiziant schlenderte einstweilen hinunter zum Anlegeplatz Teufelsbrück, wo die Fähren zum anderen Elbufer verkehrten.
Er stellte sich auf den hölzernen Steg, packte mit beiden Händen die eiserne Reling und starrte hinaus auf den Strom, der im Licht der untergehenden Sonne golden glitzerte. Etwas fehlte in dem Bild, das sich ihm bot. Aber was? Nach einigen Minuten begriff er: Es gab keine ein- oder auslaufenden Seeschiffe mehr, die man hier sonst stets und ständig beobachten konnte. Da Hamburg unter Quarantäne stand, war die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten.
»Guten Abend, Offiziant Boysen.«
Der Udel zuckte zusammen. Er hatte Anna Dierks nicht kommen hören. Die junge Frau stand nun unmittelbar neben ihm. In ihrem pastellfarbenen Sommerkleid sah sie äußerst
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