Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
hatten. Boysen konnte sich vorstellen, dass er besonders daran interessiert war, die Bestie hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Ansonsten pflegten viele Männer des Constabler Corps eine ähnlich laxe Dienstauffassung wie Boysen selbst. Ihre Entlohnung war mehr als mäßig, die Aufstiegschancen gering. Boysen hatte es zum Offizianten gebracht, und mit seinen 48 Jahren war er einer der jüngsten Udels in diesem Dienstrang. Doch ein weiterer Aufstieg erschien utopisch. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, dass die Ordnungshüter-Truppe der Stadt Hamburg hoffnungslos überaltert war. Doch die Einstellung jüngerer Männer war mit Ausgaben verbunden. Und der Senat benötigte das Geld schließlich dringend für den Bau eines prunkvollen Rathauses, wie es im Deutschen Reich kein zweites gab.
Die Uniformierten rannten in Richtung Sandtorkai. Weit hatten sie es nicht. Boysen erblickte unter der Laderampe eines Gewürzspeichers die gedrungene Gestalt von Constabler Laurent. Der Udel hatte seinen Helm verloren. Das war auch kein Wunder, denn er kniete rittlings auf einem sich wild wehrenden Mann, der flach auf dem Kopfsteinpflaster lag. Laurent konnte ihn kaum bändigen, obwohl der Constabler kein Schwächling war. Der Unbekannte brüllte pausenlos in einer fremden Sprache. Boysen wusste nicht, ob es sich um Polnisch oder Russisch handelte. Er ging davon aus, dass es keine Höflichkeitsfloskeln waren, die der Kerl ausstieß.
Im Handumdrehen waren Boysen und seine Untergebenen an Laurents Seite. Kräftige Männerfäuste packten den Verdächtigen. Immer noch war der Widerstand des Fremden ungebrochen. Er trat um sich und erwischte Constabler Peters am Knie. Boysen schlug dem Gefangenen mit seinem Revolvergriff auf den Hinterkopf. Der Treffer setzte den Mann zwar nicht schachmatt, bremste aber seine Energie einstweilen. Die Udels konnten ihm Handschellen anlegen. Constabler Sattmann zog ein Stück Schnur aus der Tasche und fesselte auch die Beine des hünenhaften Kerls.
»Ich habe keine Lust, auch mit seinem Stiefel Bekanntschaft zu machen«, sagte Sattmann mit einem Blick auf Peters, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Knie hielt.
»Ich auch nicht«, stimmte Boysen zu. Er verpasste dem Gefangenen eine gewaltige Ohrfeige. »Udels zu treten, das gefällt dir, was, du Lumpenhund?«
Der Kerl warf Boysen einen hasserfüllten Blick zu und spuckte den Offizianten an. Boysen wischte sich den Speichel weg, schlug den Gefesselten abermals und nahm diesen nun genauer in Augenschein.
Der Verdächtige war von riesiger Gestalt, mindestens einen Kopf größer als Boysen. Es grenzte an ein Wunder, dass Constabler Laurent ihn einige Minuten lang allein am Boden hatte halten können. Vielleicht war der Kerl durch den Hunger geschwächt. Boysen wettete mit sich selbst, dass er es mit einem Auswanderer zu tun hatte. Darauf deutete dessen Kleidung hin – derbe Joppe, fleckige Hose, löcherige Stiefel. In dieser Montur konnte der Verdächtige auch als Schauermann durchgehen. Boysen musste sich nicht fragen, warum der Kerl den beiden Constablern verdächtig vorgekommen war.
Die Jacke des Riesen war mit Blutflecken übersät. Man musste kein Kriminalist sein, um das zu erkennen. Boysen befahl, einen Gefangenentransporter zu holen. Obwohl es nicht weit bis zur Brooktor-Wache war, wollte der Offiziant es nicht riskieren, dem Mann die Beinfesseln abzunehmen. Peters schien es schlimm am Knie erwischt zu haben. Wenn der Constabler Pech hatte, war seine Kniescheibe zerschmettert worden und das Bein würde steif bleiben. Als Krüppel konnte er höchstens noch im Magazin des Stadthauses Dienst tun, wenn er großes Glück hatte.
Boysen befahl zwei Udels, ihren Kameraden in die Brooktor-Wache zu tragen. Aufgrund der Cholera-Epidemie war es so gut wie unmöglich, einen Krankenwagen zu bekommen. Außerdem ordnete der Offiziant an, dass der alte Doktor Ahler so bald wie möglich nach Peters sehen sollte.
Als der Gefangenentransporter endlich eintraf, bugsierten Boysen und seine Leute den Verdächtigen in den vergitterten Wagen. Der Auswanderer hatte seinen Widerstand einstweilen aufgegeben. Er schwieg und warf mit heimtückischen Blicken um sich. Boysen machte sich keine Illusionen über den Kerl. Dessen Gewalttätigkeit konnte jederzeit wieder hervorbrechen.
»Wie seid ihr eigentlich auf die Kanaille aufmerksam geworden?«, fragte Boysen Constabler Laurent, der mit stolzgeschwellter Brust den heftig herbeigesehnten Verhaftungserfolg
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