DER SCHAWINSKI CODE – Die Biografie von Roger Schawinski (German Edition)
seinen empärten Kollegen brachte Schawinski als Strassenverkäufer die druckfrische Hiobsbotschaft persönlich unter die Leute. Anschliessend räumte er die meterhoch aufgestapelten Tat-Ausgaben von seinem Schreibtisch, und am nächsten Wochenende lud er das ganze Team zur Abschiedsparty bei sich zuhause ein.
Gegen Mitternacht warf er sämtliche Zeitungen im Garten auf einem Haufen und zündete ihn an. Wie Rumpelstielzchen tanzte er im Tat-T-Shirt um das Feuer und schmetterte – weil ihn die Migros so so schnöde in den Regen gestellt hatte – «I’m singing in the rain».
Die Zeitungsverbrennung sei für ihn «ein Akt der Reinigung» gewesen, sagt Schawinski heute, «ich musste loslassen und abschliessen!»
Für die Kollegen auf der Redaktion ging die Krise erst richtig los. Ungefragt setzte ihnen die Migros einen neuen Chefredaktor vor die Nase: Karl Vögeli. – Am 22. September traten 56 von 61 Redaktoren in einen unbefristeten Streik. – Tags darauf wurden sie fristlos entlassen. – Am 25. September gab Pierre Arnold die Einstellung der Tat bekannt. – Die Geschassten protestierten mit der Kampfzeitung Wut.
Hannes Heldstab, unterdessen Blick-Reporter, hat Schawinskis Besuch am Streikposten nicht vergessen. «Er legte ein Hunderternötli in die Kasse», erzählt er, «das fanden wir ziemlich schäbig.»
Mit den ausbezahlten 170’000 Franken («damit war ich für meine damaligen Begriffe plötzlich ein reicher Mann») verreiste Schawinski mit seiner Freundin Rita Schwarzer und seiner Schreibmaschine ein halbes Jahr in die Karibik. Unter Palmen verarbeitete er seine jüngsten Erfahrungen. Ein Schlüsselroman sollte es werden mit dem Titel «Kein Blatt vorm Mund».
Doch bis heute hält Schawinski sein Manuskript eisern unter Verschluss – und die damals so quirlige Rita Schwarzer sagt kein Wort mehr.
Exkursion in die Seelenwelt von André Picard, dem sein Alter ego Roger Schawinski keine Ruhe lässt
Jeden morgen muss er sich überlegen: Wen überfalle ich heute?
«Roger und ich, wir waren Brüder während der spanischen Inquisition», verrät André Picard am Steuer seines Geländewagens. Die schmale Strasse windet sich steil bergauf, kurz nach der Pension Alpenblick schaltet er einen Gang tiefer und fährt fort: «Damals musste ich mitansehen, wie unsere Mutter als Hexe verbrannt wurde. Anschliessend warfen sie auch den jüngeren Sohn Roger ins Feuer, und mich folterten sie auf grausamste Weise.»
Diese Erkenntnis verdanke er seiner medial begabten Freundin Erika Grazia Landert, die Autorin des Buches «Der feinstoffliche Krieg». (Roger Schwainski hat sie unlängst im Talktäglich zum Thema Exorzismus befragt.)
Endstation Anemonenweg, ein schmuckes Chalet mit blauen Fensterläden oberhalb von Amden mit Blick auf den Walensee. Auf dem Garagentor ist ein riesiges Auge aufgemalt. «Jeder, der im Leben den Überblick verloren hat, kann sich hier sattsehen!» Ebenfalls nicht zu übersehen ist die hellgelbe WC-Schüssel unter einem Baum, aus der eine dürre Christrose ragt. «Wer etwas zu entsorgen hat, kann es hier loswerden und sorgenfrei mein Haus betreten.»
Hierhin hat er sich vor vielen Jahren zurückgezogen, der 57jährige André Picard. Seine markanten Gesichtszüge und die kurzgeschorenen grauen Haare verraten den asketischen Sinnsucher. Was für ein Kontrast zu früher, als er noch der schwarzgelockte «TV-Sunnyboy» war! Der Liebling der Boulevardpresse arbeitete für Antenne, Rundschau und Tagesschau; war Mitbegründer des philosophischen Streitgesprächs vis-à-vis und moderierte zuletzt die Diskussionssendung Zischtigs-Club, die er zusammen mit Peter Schellenberg – seinem «grossen Lehrmeister» und dem jetzigen Fernsehdirektor – initiiert hatte.
Doch 1986, nach fast zwanzig Jahren beim Schweizer Fernsehen, verkündete der damals 44jährige wie ein Blitz aus heiterem Himmel seinen Ausstieg.
«Als Aushängeschild des Fernsehens weisst du plötzlich nicht mehr, wer du eigentlich bist und wem du gehörst – ob dir selbst oder der Öffentlichkeit», erklärt er. Äusserlich habe ihm niemand angesehen, was in ihm vorging. «Doch ich war geplagt von Selbstzweifeln und hatte oft während der Sendungen das Gefühl, innerlich abzustürzen.» Sein einziger Wunsch war, der kalten Scheinwelt und der Reizüberflutung zu entfliehen.
Auf dem Holztisch flackert eine rosarote Kerze, und das offene Fenster ist wie eine Postkarte aus der Ferienregion Heidiland. Hier oben auf der Alp will Picard
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