DER SCHAWINSKI CODE – Die Biografie von Roger Schawinski (German Edition)
Während der eine an gesellschaftlich relevanter Stelle inthronisiert sei, verfüge der andere über einen privaten Richtplatz mit seinem Talktäglich, das ihn an einen spätmittelalterlichen Dorfplatz erinnere. «Hier kann Roger seine Schauprozesse durchführen», sagt Picard, «und auf seinem Terrain gelten seine eigenen Regeln: Er allein bestimmt, was wahr ist und was nicht!» Das sei Balsam für einen, der sich permanent benachteiligt und ungerecht behandelt fühlt.
Hoch über dem Walensee schiebt sich die Sonne hinter die Bergkuppe, und Picard holt das Buch «Star Signs – die geheimen Botschaften des Universums» von Linda Goodman aus dem Regal.
«Welche Tragödie hat sich bloss in einem seiner früheren Leben abgespielt?» rätselt er. Man müsse sich nur einmal die Verkrampfung in seinem Gesicht ansehen und die hervortretende Halschlagader! Dazu komme dieses leichte Vibrieren in seiner Stimme und das kaskadenartige Hervorbrechen der Wortschwälle, wenn er sich Gehör verschaffen wolle. «Haben sie ihn am Strick aufgehängt? Wurde ihm die Kehle durchgeschnitten?»
«Um Roger zu verstehen, nutze ich jede verfügbare Quelle», sagt Picard beim Blättern, «ich gehe puzzleartig vor wie ein Kriminalinspektor.»
Einen Hinweis auf sein Schicksal liefert womöglich die Numerologie: R=2, O=7, G=3, E=5, R=2, S=3, C=3, H=5, A=1, W=6, I=1, N=5, S=3, K=2 und I=1, das ergibt zusammengezählt 49. – «Aha, der Einsiedler!» ruft Picard erfreut.
«Oft liegt eine geniale Begabung vor oder zumindest hohe Intelligenz», liest er vor. «Selbst in der Menge wird er sich oft einsam und isoliert fühlen.» Und weiter steht da: «Zu irgend einem unerwarteten Zeitpunkt im Leben kann es geschehen, dass die glitzernden Versprechen der Welt plötzlich abgelehnt und gegen den Frieden und die Ruhe der Natur eingetauscht werden.»
«Hmm!» – André Picard nimmt einen tiefen Zug an seiner Gauloise Corporal. Wenn er es sich so überlege, eigentlich würde es ihn überhaupt nicht wundern, wenn Roger plötzlich einen Strich unter allem ziehen etwas ganz Neues beginnen würde.
Diesen Prozess hat Picard längst hinter sich. Während Schawinski noch nach immer Höherem strebt, hat Picard für die neuste Ausgabe der Ammler Zitig das bescheidene Selbstverständnis der Dorfbewohner in Worte gefasst: «Mir sind ä chlini, eigni Wält und läbed eifach, gmüetlich und fründschaftlich. Mir sind stolz uf där Ort, wo mir wohned. (…) Wär zu üs chunnt, söll sich chöne erhole, söll d’Rueh und d’Sunne gnüsse und sälber törfe bestimme, was ihm guet tuet.»
In Amden ist André Picard der Medienstar.
Auf den Spuren seiner polnisch-jüdischen Wurzeln wird Roger Schawinski von seinen Emotionen überwältigt
Nie wieder Sczawin!
«Ich sehe ein Bild vor meinen Augen: Eine grosse Stadt, zerstört, ob durch Erdbeben oder durch Krieg spielt keine Rolle. Ich sehe die Menschen, wie sie leben in ihren Löchern, wie sie Tag für Tag in den Ruinen herumgehen und irgend etwas Brauchbares suchen: Da eine liegengebliebene Pfanne, dort eine Konservenbüchse. Aber es ist nicht nur ein Mensch hier, der sucht, nein, es sind Tausende, Kinder und Greise, Krüppel und Muskelprotze. Alle schauen, dass sie diese Pfanne eher sehen als ihr Nachbar, dass sie die Bohnen aus der Konservenbüchse essen können. Diese Menschen, einen Tag vorher in einem geregelten Leben, haben sich urplötzlich in eine Armee von Ratten verwandelt. Ihr Leben ist so grau wie die Ruinen, sie vegetieren wieder neben jenen Ratten, die sie vertrieben haben, darunter auch einige menschliche, wie etwa Kriminelle, der Abschaum der Gesellschaft.»
Diese Alpträume – vom 17jährigen Roger Schawinski in einem Schulaufsatz beschrieben – stiegen wieder in ihm hoch, als er im Frühling 1990, nach der schmerzvollen Scheidung von Ina und der Trennung von seinen Kindern, mit seiner Freundin Rachel nach Warschau jettete, um nach den Spuren seiner Vorfahren zu fahnden. Höchste Zeit für Schawinski: «Jetzt musste ich wissen, woher ich komme und wer ich bin!»
Sie übernachteten im Hotel Marriott, und mit einem gemieteten Lada erreichten sie innert einer Stunde Kutno, eine Industriestadt westlich von Warschau mit 50’000 Einwohnern. Hier also, in diesem «grässlichen, zurückgebliebenen Kaff», so Schawinskis Eindruck, lebte als Holzschuhmacher sein Grossvater Reuven Sczawinski, bis er sich drei Jahre vor Ausbruch des ersten Weltkrieges entschied, der Armut und der Unterdrückung durch
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