DER SCHAWINSKI CODE – Die Biografie von Roger Schawinski (German Edition)
das zaristische Regime zu entfliehen. 1911 wanderte er in die Schweiz aus, und als Hausierer zog er kreuz und quer durchs Bündnerland. Kaum hatte er genügend Seifen, Kämme und Schnürsenkel verkauft, liess er seine Frau Eva und die beiden Kinder nachkommen. In Chur kam 1916 Rogers Vater Abraham zur Welt.
In Kutno besichtigte Roger Schawinski das kleine jüdische Museum. Alte Schriftstücke von jüdischen Bürgern seien keine mehr vorhanden, bedauerte der Kurator. Ohne viele Worte führte er ihn in den Hinterhof und deutete auf aufgereihte Grabsteine mit hebräischen Inschriften. Tausende weitere seien von den Deutschen für den Strassenbau verwendet worden, erklärte er.
Anschliessend besichtigten Roger und Rachel den Platz, auf dem 1942 die Juden zusammengetrieben worden waren, bevor sie von den Nazis ins Konzentrationslager verschleppt wurden. «Alles war plötzlich so unheimlich nah, der Krieg und die Opfer der Verfolgung.»
Die Zeitreise führte weiter über Sczawin – «ein heruntergekommenes, verlassenes Nest, dem ich nichts mehr als meinen Namen verdanke» – und Chodesch, den Geburtsort seiner Grossmutter. Am Tor des Konzentrationslagers von Ausschwitz stand er an der selben Stelle wie SS-Arzt Josef Mengele beim Empfangen der vollgepferchten Eisenbahnwagen. Er streifte durch die Baracken mit Inschriften wie «Reinlichkeit ist wichtig», sah die Verbrennungsöfen sowie Berge von Haaren, Brillengestellen und Koffern. «Mir schien, als wären die Menschen erst gestern hinausgegangen», beschreibt er. Dieses Erlebnis habe ihn vor allem auch mit der Endlichkeit seiner eigenen Existenz konfrontiert.
Nach einer weiteren Nacht im Marriott überwältigten ihn die Emotionen. «Wir müssen sofort abreisen», sagte er zu Rachel, «der Schmerz ist zu gross.» An keinem Ort auf dieser Welt habe er sich jemals fremder gefühlt als in Polen; niemals wieder, so schwor er sich, werde er seinen Fuss in dieses Land setzen.
Auf einmal verstand er den Spruch, den er so oft von seiner Omama gehört hatte: «Polen soll verbrennt werden.»
Auch Abraham – von allen immer Abri genannt – wollte von seiner Vergangenheit nichts wissen. Niemals wurde in seiner Familie über die ostjüdische Herkunft gesprochen – genau so wenig wie über die Zeit des Holocaust.
Von einer besseren Welt hatte Abri schon immer geträumt. Sein Leben lang schwärmte er davon, ein berühmter Clown zu sein. Wenn in seiner Kindheit der Zirkus nach Chur kam, war es für ihn das grösste Erlebnis des Jahres. Oft streifte er ganz alleine mit einer Büchse Apfelmus und einem Stück Brot im Rucksack durch die Gegend und stellte sich vor, alle Augen wären auf ihn in der Manege gerichtet.
Doch als Papa Reuven im Sommer 1929 von einem Auto angefahren wurde und starb, gab es keine Hoffnung mehr auf eine unbeschwerte Zukunft. Während Heiri, der Älteste unter den fünf Geschwistern, als Hausierer für den Familienunterhalt sorgte, machte sich Abri als Balljunge auf dem Tennisplatz nützlich oder schleppte den Golfspielern die Ausrüstung hinterher.
In den dreissiger Jahren zogen die Schawinskis nach Zürich, wo Abri seine spätere Frau Marcelle Tyber kennenlernte, ebenfalls aus einer polnisch-jüdischen Familie stammend. Sie wohnten in einer Drei-Zimmer-Wohnung an der Birmensdorferstrasse 65, nahe des Bahnhofs Wiedikon, und am 11. Juni 1945 kam Roger zur Welt. Wenn Mutter Marcelle den Kleinen mit den auffällig dicken und roten Bäckchen im Kinderwagen vor sich herschob, bemerkten entzückte ältere Damen: «Dem sieht man den Krieg aber überhaupt nicht an.»
Wer ihn kannte, beschreibt Abri als Lebenskünstler mit unerschütterlichem Humor. Ohne Murren verdiente er sein Geld als Vertreter für Weisswaren, und wenn ihm die negativen Reaktionen wegen seines polnischen Namens zuviel wurden, stellte er sich einfach im Bündnerdialekt als «Päuli Cavegn» vor.
Jeden Morgen sei er fröhlich losgezogen – «Schau mal, dieses Wetter, das wird ein herrlicher Tag!» –, und abends singend und pfeifend nach Hause gekommen, berichtet Jacqueline, die um zwei Jahre jüngere Schwester von Roger. Kein Mensch habe ihm angemerkt, wie minderwertig er sich eigentlich vorgekommen sei wegen seines verhassten Berufs und seiner Körpergrösse von nur gerade 1 Meter 55.
Fürs Geschäftliche brachte Abri nicht die besten Voraussetzungen mit. Konnte ein Kunde nicht bezahlen, zeigte er grenzenloses Verständnis – und nicht selten wurde seine Hilfsbereitschaft schamlos
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