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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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Mädchen.«
    Man konnte vor Imke nichts verbergen. Jedenfalls dann nicht, wenn sie aufmerksam war. Wenn sie nicht gerade tief in einer Geschichte steckte, denn dann dachte sie nur noch ans Schreiben.
    »Mina ist gestern nicht zur Therapie gekommen. Jetzt weiß ich, warum.«
    »Wirst du sie aufsuchen?«
    Genau das fragte er sich gerade. Normalerweise verlangte er von seinen Patienten strikt, dass sie Therapie und Privatleben nicht miteinander vermischten. Seine Rolle war die des Therapeuten. In ihrem privaten Bereich hatte er nichts verloren.
    In Minas Fall war das allerdings ein bisschen anders. Er hatte sich mehrmals mit ihren Eltern auseinandersetzen müssen, die der Therapie ihrer Tochter ablehnend gegenüberstanden.
    »Sie braucht dich jetzt.«
    Zweifellos. Mina war den Gefühlen, die auf sie einstürmen würden, allein nicht gewachsen. Nicht im Augenblick. Es war ihm ja gerade erst gelungen, sie einigermaßen zu stabilisieren.
    Tilo griff nach seinem Handy. Er hatte die Nummern sämtlicher Patienten gespeichert. Als Psychologe war man mit einem Bein immer im Dienst. Beziehungsweise mit einem Ohr. Er schmunzelte.
    Imke fing sein Lächeln auf und gab es zurück. »Zumindest hatten wir ein gemütliches Frühstück«, sagte sie.
    Doch Tilo war mit seinen Gedanken schon wieder bei Mina. Ein unangenehmes Gefühl regte sich in ihm. Unsicherheit. Und in einem fernen Winkel seines Bewusstseins blitzte die Erkenntnis auf, dass er sich fürchtete.
     
    Sie musste an ihre Mutter denken. Und wieder kam dieser Impuls in ihr hoch, alles stehen und liegen zu lassen, hinzulaufen und sich um sie zu kümmern. Bestimmt war sie außer sich. Vor Kummer. Vor Schmerz. Und vor Angst.
    Sie hat sich einen Dreck um dich geschert! Sie hat dir nie geholfen! Nie!
    Mina hielt sich die Ohren zu. Die Katze war ihr vom Schoß gesprungen. Sie hatte das Chaos in Minas Innerm gespürt und nicht ausgehalten.
    Auch Mina besaß die Fähigkeit, die Schwingungen wahrzunehmen, die von anderen Lebewesen ausgingen. Sie war einer Katze darin sehr ähnlich. Die Katzen witterten das. Deshalb fühlten sie sich zu Mina hingezogen.
    »Mina. Geht es dir nicht gut? Sollen wir einen Arzt rufen?«
    Um Himmels willen. Bloß nicht. Ehe sie sich’s versah, würde sie sich in irgendeinem Krankenhaus wiederfinden. Es gab nur einen, den sie jetzt brauchte, und das war Tilo.
    »Nein. Keinen Arzt.«
    Die Mädchen wirkten ratlos. Kein Wunder. Jeder wäre an ihrer Stelle überfordert. Mina hätte sie gern beruhigt, aber sie war ja selbst voller Panik.
    Hör auf zu flennen! Guck, dass du hier rauskommst!
    »Ich glaube …« Sie stand unsicher auf und schob den Stuhl zurück. »Ich glaube, ich sollte jetzt mal wieder gehen.« Doch ihr Körper war anderer Meinung. Die Beine knickten ihr weg und sie fiel hin.
    Wie hinter Nebelschleiern schwebten die Gesichter von Jette und Merle über ihr. Der feine Atem einer Katze strich an ihrer Schläfe entlang. Donna, dachte sie noch, dann versank sie in Dunkelheit.
     
    Als Bert sein Büro betrat, entdeckte er sofort den Papierstapel auf dem Schreibtisch. Die Informationen zu den Wahren Anbetern Gottes, nach denen er gefragt hatte, zusammengestellt von einem jungen Kollegen, der noch so frisch war in diesem Beruf, dass nichts und niemand seinen Eifer bremsen konnte.
    Bert erinnerte sich an alte Fotos von sich selbst. Auch er hatte einmal so ausgesehen, jung und entschlossen und voller Zuversicht. Und jetzt gab es Tage, an denen er es vermied, beim Händewaschen in den Spiegel über dem Waschbecken zu schauen. Um nicht verfolgen zu müssen, wie das Leben Linien auf seiner Haut zog, wie es ihm bläuliche Schatten unter die Augen malte und seine Lippen schmaler werden ließ.
    Sein Beruf hatte deutliche Spuren hinterlassen. Wer sich den ganzen Tag mit der dunklen Seite der Menschen beschäftigte, wer so viel Elend und Gewalt begegnete, der konnte sich seine Unschuld nicht bewahren.
    Stück für Stück hatte Bert sie verloren. Etwas in ihm musste das Elend nachempfinden, um es zu begreifen. Aber auch die Gewalt. Etwas in ihm musste sich mit dem Opfer verbinden - und etwas mit dem Täter.
    Bert öffnete das Fenster und horchte auf die Geräusche der Straße. Sie waren so beständig und vertraut. Genau wie die täglichen Rituale. Das Frühstück zu Hause. Die Fahrt zum Büro. Die Morgenbesprechung mit den Kollegen. Der Gang zum Kaffeeautomaten im Flur. Das Heimkommen am Abend. Die Begrüßungsküsse der Kinder.
    Doch da war auch die Schweigsamkeit

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