Der Scherbensammler
lassen.
Vorsichtig fasste Mina sich an die Stirn. Diese Kopfschmerzen.
Die beiden Mädchen wirken vertrauenswürdig.
Vertrauenswürdig? Man kann keinem trauen. Niemals. Nie.
Wir brauchen Hilfe.
Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.
Sprüche. Damit kommen wir nicht weiter.
Wir dürfen jetzt nicht schlappmachen. Unser System hat sich doch immer bewährt.
Bewährt? Und warum sind wir dann auf diese Therapie angewiesen?
»Aufhören!«
Mina hielt sich die Augen zu. Als wäre sie wieder fünf und mit Ben in ihrem Versteck. Als könnten sie den Vater so überlisten. Und als wäre das Versteck ein Schutz für immer. Dabei würden sie ihm schon am Abend wieder vor die Füße laufen. Und seinen Zorn zu spüren kriegen.
Tilo. Sie musste zu ihm. Wenn ihr einer helfen konnte, mit dem Tumult in ihrem Innern fertig zu werden, dann er.
Gute Entscheidung. Los. Mach dich auf den Weg.
Lass sie erst ausruhen. Sie ist doch gar nicht in der Lage, sich draußen zu bewegen. Guck sie dir an. Sie ist fix und fertig.
Will nich weg! Will hier bleiben!
Pscht. Niemand wird dir etwas tun.
Hab Angst!
Pschscht! Leg dich hin. Schlaf ein bisschen. Ich pass auf dich auf. Und hör auf zu weinen. Du brauchst nicht traurig zu sein. Komm, ich erzähl dir eine Geschichte.
Die Stimme des kleinen Kindes fürchtete sie am meisten. Sie drückte ihr das Herz zusammen. Wenn sie die hörte, zerschmolz etwas in ihr. Übrig blieb ein kleiner, harter Kern. Sie hasste diesen Zustand, denn er machte sie wehrlos.
Niemand konnte ihr die Entscheidung abnehmen. Erst recht nicht die Stimmen.
Sie wusste, dass Namen zu den Stimmen gehörten. Aber es gab Augenblicke, in denen sie die Namen vergaß. Dies war solch ein Augenblick. Als wäre alles zu viel für ihr Gehirn. Als müsste sie einen Teil der Gedanken und Erinnerungen daraus verbannen.
Zumindest für eine Weile. Denn irgendwann kamen die Erinnerungen und die Gedanken zurück. Nichts ging für immer verloren.
Sie machte leise die Tür auf. Horchte. Jette und Merle unterhielten sich in der Küche. Also auf Zehenspitzen zur Tür. Und dann nichts wie raus.
Etwas Weiches schmiegte sich an ihr Bein. Schnurrte. Mina glitt an der Tür hinunter zu Boden. Das Weinen tat ihr in der Kehle weh und in der Brust. Ihre Augen blieben schmerzhaft trocken.
Die Katze setzte sich neben sie. Sie wartete ab, wie Katzen das tun. Als Jette und Merle in den Flur kamen, hob Mina den Kopf.
»Bringt mich zu Tilo Baumgart. Bitte. Er ist mein Therapeut.«
Jette und Merle wechselten einen raschen Blick. Mina ließ den Kopf wieder sinken. Ihre Kraft war verbraucht. Sie hatte die irrwitzige Hoffnung, dass die Mädchen ihr trotz allem vertrauen würden.
»Okay«, sagte Merle. »Ich fahr dich hin.«
Mina strich sacht über das warme Fell der Katze. Sie fühlte sich getröstet und fast ein wenig beschützt. Die Betonung lag auf fast, denn nichts und niemand konnte sie schützen, am wenigsten sie selbst.
Kapitel 6
Imke Thalheim saß am Schreibtisch und schaute aus dem Fenster. Es kam selten vor, dass sie eine Schreibhemmung hatte. Meistens reichten ein paar Minuten Entspannung aus, um ihre Gedanken wieder in Fahrt zu bringen.
Diesmal nicht.
Das verschwundene Mädchen war daran schuld. Mina. Sie hatte die Tür aufgestoßen, die Imkes Erinnerungen verschlossen hielt, einen Spaltbreit nur, doch das reichte aus.
Fröstelnd verschränkte Imke die Arme vorm Magen. Als Nächstes würden die Ängste von damals wieder hochkommen und diese scheußliche Hilflosigkeit. Sie würde das nicht noch einmal überstehen.
»Unsinn«, sagte sie leise zu sich selbst. »Dieses Mädchen hat nichts mit meiner Tochter zu tun. Sie ist bloß Tilos Patientin. Und außerdem ist sie ja wieder aufgetaucht.«
Mina hatte sich überraschend gemeldet, und Tilo war sofort in die Praxis gefahren. Warum beruhigte sie das nicht?
Sie brauchte einen Tee. Heiß. Stark. Und süß.
Die Küche war leer und still. Man hörte nur das leise Summen des Kühlschranks. Die Katzen waren unterwegs. Es war, als spürten sie, dass der Sommer zu Ende ging, und als wollten sie ihn bis zur Neige auskosten. Die Mäuse waren satt und träge und leichte Beute. Das würde sich in den kalten Wintermonaten ändern.
Imke öffnete die Terrassentür und atmete die Luft ein, die schwer war von später Hitze und dem Duft der Rosensträucher, die unter der Last der Blüten die Zweige hängen ließen. Die Schafe auf dem Stück Land, das Imke verpachtet hatte, bewegten sich kaum. Der
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