Der Scherbensammler
verhieß.
Rasch schlüpfte sie in ihren Bademantel, wusch sich das Gesicht und fuhr sich kurz mit dem Kamm durchs Haar.
Tilo hatte im Wintergarten gedeckt, Brot, Butter, Käse und Quittengelee. Konzentriert füllte er zwei Gläser mit Orangensaft.
»Du siehst müde aus.« Imke wollte sich an ihn schmiegen, doch Tilo wich ihr aus und trug die Gläser zum Tisch. »Was hast du denn?« Allmählich machte sie sich wirklich Sorgen.
Erst als sie am Tisch saßen und nachdem Imke den ersten Schluck Kaffee genommen hatte, beantwortete er ihre Frage.
»Wir haben die ganze Nacht nach Mina gesucht.«
»Wieso?« Überrascht sah sie ihn an. »Und wer ist wir?«
»Jette, Merle und ich.«
Mit einem Klirren stellte Imke die Tasse auf den Unterteller zurück. »Was haben die Mädchen mit deiner Patientin zu tun?«
»Mina wohnt seit Kurzem bei ihnen.«
»Wie bitte?« Sie hörte selbst, wie schrill ihre Stimme klang. Es war ihr egal. Sie hatte Lust, ihn anzuschreien. Oder zu schlagen. Die Mädchen vertrauten ihm mehr als ihr!
»Wir wollten dich nicht beunruhigen.«
»Wie überaus rücksichtsvoll! Und seit wann geht das schon so?«
Ihr war bewusst, dass sie sich aus dem Repertoire einer betrogenen Frau bediente. Aber sie fühlte sich auch so. Es gab hundert Arten, jemanden zu hintergehen.
»Seit ein paar Wochen.«
Sie schnappte nach Luft. Seit ein paar Wochen!
Und all ihre Ängste? Ihre Vorahnungen? Wie oft hatte sie sich selbst beschwichtigt? Sich immer wieder eingeredet, dass es keinen Grund zu irgendwelchen Befürchtungen gebe?
»Verstehe ich dich richtig?« Sie fixierte ihn kalt. »Du hast zugelassen, dass sich eine deiner Patientinnen, die in einen Mordfall verwickelt ist und von der Polizei gesucht wird, in der Wohnung meiner Tochter und ihrer Freundin versteckt?«
Tilo hatte eine Scheibe Brot mit Käse belegt und biss hinein. Sein Kauen machte sie rasend.
»Du bringst die Mädchen mit voller Absicht in Gefahr?«
»Ich glaube nicht, dass Jette und Merle sich auch nur für eine Minute in Gefahr befunden haben.«
»Nicht in Gefahr? Bei einer Multiplen?«
Sie merkte sofort, welcher Fehler ihr da unterlaufen war. Heiß schoss ihr die Röte ins Gesicht. Sie wich seinem Blick aus, fingerte am Henkel ihrer Tasse herum. Und da kam auch schon seine Frage. Ruhig und beherrscht.
»Wie kommst du darauf, dass Mina eine Multiple ist?«
»Tilo …«
Doch er war schon aufgestanden und hinausgegangen. Wenig später hörte sie ihn mit quietschenden Reifen davonfahren.
Trotz unserer Müdigkeit hatten wir den Rest der Nacht zusammengesessen. Donna hatte es sich auf Minas Schoß bequem gemacht und unser Schweigen mit ihrem Schnurren ausgefüllt. Es gab so viel zu reden, aber erst nach einer Weile fanden wir Worte.
»Was wird jetzt mit mir geschehen?«, fragte Mina.
Wir wussten es nicht. Und das war das Allerschlimmste. Wie sollten wir uns gegen etwas wehren, das wir nicht einschätzen konnten?
»Nichts«, sagte Merle schließlich. »Wir werden nicht zulassen, dass sie dich einsperren.«
»Wieso einsperren?« Ich spielte mit dem Häuflein leerer Erdnussschalen, das vor mir auf dem Tisch lag. »Mina kann doch höchstens verdächtig sein. Das reicht nicht aus, um sie zu verhaften.« Meine Worte klangen überzeugt, dabei verstand ich überhaupt nichts von diesen Dingen.
»Und wenn sie mich verhören wollen?« Minas Hände strichen unablässig über Donnas Fell. Als könnten sie nicht zur Ruhe kommen. »Was dann?«
Davor hatten wir alle Angst. Was würde passieren, wenn der Kommissar erfuhr, dass Mina multipel war? Hatte er das Recht, sie in die Psychiatrie einweisen zu lassen?
»Ich habe kein Alibi«, sagte Mina leise. »Für beide Morde nicht.«
»Na und? Deshalb bist du noch lange keine Mörderin!« Merle drehte sich zu mir. »Es ist ja nicht strafbar, kein Alibi zu haben, oder?«
»Mein Vater und Max.« Tränen schimmerten in Minas Augen. »Vor beiden hatte ich Angst. Beide haben mich ein Leben lang gequält.«
»Eben!« Merle wurde ganz lebhaft. »Du hättest doch gar nicht den Mut gehabt, sie umzubringen!«
»Ich nicht. Aber …«
Keine von uns sprach Cleos Namen aus. Keine von uns wollte sie in diesem Augenblick sehen. Obwohl Cleo vielleicht einen vernünftigen Plan entwickelt hätte, um das Team zu schützen.
»Selbst Tilo zweifelt inzwischen an mir.«
Ich hätte Mina gern widersprochen, aber ich konnte es nicht. Tilo hatte die Polizei eingeschaltet. Hätte er das getan, wenn er Mina vertraute?
»Er
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