Der Scherbensammler
war nichts los, so früh am Morgen. Die Kronen der Bäume in den kleinen Gärten lichteten sich. Man konnte den Herbst fast schon riechen.
Reinwaschen. Reinwaschen. Reinwaschen.
Ihr wurde schwindlig. Sie schloss die Augen. Es wäre nur ein kurzer Moment …
»Mina!«
Jettes Stimme. Zitternd richtete Mina sich auf und drehte sich um. Sie spürte den Schweiß auf der Stirn und auf dem Rücken. Gleich würden ihr die Tränen über die Wangen laufen. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sie zurückzuhalten.
Jette zog sie an sich. Mit der freien Hand machte sie das Fenster zu.
»Ich muss los«, flüsterte sie. »Aber Merle passt auf dich auf.« Langsam dirigierte sie Mina in Merles Zimmer. »Ich werde versuchen, heute früher nach Hause zu kommen.«
Mina nickte. Sie setzte sich auf Merles Bett.
Merle, die damit beschäftigt war, das nächste Treffen der Tierschutzgruppe zu planen, sah von ihrem Kalender auf. »Gut, dass du da bist. Lass uns ein bisschen quatschen.«
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Ihre selbst gestrickten Socken waren regenbogenfarbig geringelt.
»Prima Socken«, sagte Mina.
Zwei Worte. Wie schwer sie ihr fielen.
»Für jede Stimmung eine Farbe.« Merle wackelte mit den Zehen. »Da bist du immer richtig angezogen.«
»Hast du auch ein Paar schwarze?«
Merle schüttelte den Kopf. »Schwarz ist tabu.« Sie nahm die Füße vom Tisch und trat zu Mina ans Bett. »Auch für dich, hörst du?« Sie umfasste Minas Kopf mit beiden Händen. »Weil wir nicht aufgeben. Niemals. Klar? Jede Farbe können wir uns aussuchen. Jede. Außer Schwarz.«
Mina sah, wie ernst Merle es meinte. Vorsichtig nickte sie.
»Du wirst kämpfen«, sagte Merle. »Versprich es mir!«
»Merle …«
»Versprich es!«
»Ich verspreche es.«
Mina wusste, dass sie eigentlich kein Versprechen geben durfte. Nicht in ihrem Zustand. Sie horchte in sich hinein. Keine der Stimmen wies sie zurecht. Keine mischte sich ein.
»Ehrenwort?«
»Ehrenwort.«
In diesem Augenblick klingelte es.
Die Polizei. Mina war sich ganz sicher. Jetzt konnte sie zeigen, dass sie ihr Versprechen hielt.
Merle hatte erwartet, den Kommissar vor der Tür stehen zu sehen. Auf einen jungen Mann war sie nicht vorbereitet.
»Ich bin Ben«, sagte er und schien nicht zu wissen, wohin mit seinen Händen.
Merle zögerte.
»Zehn Minuten«, sagte er. »Bitte. Lass mich nur zehn Minuten mit ihr reden.«
Merle hörte ein Geräusch. Im selben Moment veränderte sich Bens Gesicht. Ein Lächeln breitete sich darauf aus, so zärtlich und strahlend, dass Merle sich wünschte, es gelte ihr. Doch Ben schaute auf einen Punkt hinter ihrer Schulter.
»Hallo, Ben«, sagte Mina.
Merle gab die Tür frei und Ben kam herein. Er umarmte Mina. Lange. Und Mina ließ es geschehen.
»Kann ich mit dir sprechen?«, fragte Ben. »Allein?«
»Das ist Merle«, sagte Mina. »Ich hab keine Geheimnisse vor ihr.«
»Kein Problem.« Merle wandte sich ab. »Ich kann gern …«
»Nein.« Minas Stimme hielt sie zurück. »Bitte bleib.«
Sie setzten sich an den Küchentisch. Merle war unbehaglich zumute. Sie hätte Bens Wunsch gern respektiert. Andrerseits hatte sie ihr Wort gegeben, Mina beizustehen. Sie griff nach der Zeitung, die zwischen den Frühstücksresten auf dem unaufgeräumten Tisch lag. Vielleicht würde Ben sich entspannter fühlen, wenn sie nicht zuhörte. Was jedoch nicht einfach war.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Mina.
»Ich hab mir gedacht, dass du deine Therapie garantiert nicht abbrechen würdest. Also musste ich nur warten und im richtigen Augenblick diesem Tilo Baumgart folgen.«
»Aber du bist erst jetzt gekommen.«
»Es war ziemlich offensichtlich, dass du mich nicht sehen wolltest. Sonst hättest du uns nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen.«
»›Verlassen‹ ist das falsche Wort. Ich bin … gegangen.«
»Abgehauen bist du. Hals über Kopf.«
Minas Finger spielten mit einem Kaffeelöffel. Er klimperte leise. »Und nun bist du da.«
»Ja.« Bens Stimme war weich geworden und sanft. »Ich hab es nicht mehr ausgehalten. Ich wusste ja, dass du hier gut aufgehoben bist, aber du hast mir so gefehlt.«
»Du wusstest …«
»Ich habe deine Freundinnen … beobachtet.« Ein kleines Zögern. Ein entschuldigender Blick zu Merle. »Das ließ sich nicht vermeiden.«
Nicht vermeiden? Merle dachte an den beklemmenden Augenblick vorm Tierheim zurück, als sie gespürt hatte, dass sie angestarrt wurde.
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