Der Scherbensammler
auszustrahlen schien.
»Leg das Ding weg!«
Ben wies mit einer Kopfbewegung auf das Huhn. Er blinzelte nicht, obwohl das plötzliche Licht ihn doch genauso blenden musste, wie es Merle blendete.
»Wie bist du hier reingekommen?«
Merle dachte gar nicht daran, sich von ihrer Waffe zu trennen. Ab heute würde sie nie wieder behaupten dürfen, Pazifistin zu sein.
»Leg das Ding weg«, wiederholte Ben.
Sein Gesicht war starr und unbewegt. Seine Stimme klang merkwürdig flach, wie die Stimme aus einem Automaten. Langsam bewegte Merle sich rückwärts auf Jettes Zimmer zu.
Ben erhob sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze, aber Merle war schneller. Sie drehte sich um, stieß Jettes Tür auf, stürzte ins Zimmer und drehte den Schlüssel im Schloss.
Sofort war Jette wach. Sie rieb sich verwirrt die Augen.
»Was ist los?«
Da schlug Ben schon gegen die Tür.
»Macht ihr freiwillig auf? Oder soll ich euch holen?«
Jette sprang aus dem Bett und zog sich hastig an.
»Wer ist das?«
»Ben.« Merle stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür. »Ruf die Polizei!«
»Ben? Aber wieso …«
»Die Polizei! Mach schon!«
Ein Blick von Merle genügte, und Jette begriff, wie ernst die Lage war. Mit flatternden Händen fuhr sie über das Chaos auf ihrem Schreibtisch.
»Oh nein! Ich hab mein Handy zum Aufladen in den Flur gelegt! So ein Mist! Wie ist der überhaupt hier reingekommen?«
»Unsere Tür hat kein Sicherheitsschloss.« Merle schwitzte vor Aufregung. »Es ist ein Klacks, sie aufzukriegen.«
»Hat meine Mutter ja immer schon gesagt.«
»Das bringt uns jetzt echt enorm weiter.«
Ben rüttelte an der Klinke.
»Ich zähle bis drei!«
Jette stemmte sich ebenfalls gegen die Tür. Sie waren zu zweit. Ihre Chancen standen nicht schlecht.
»Eins!«
Merle kniff die Augen zu.
»Zwei!«
Neben sich hörte sie Jette stöhnen.
»Drei!«
Ben warf sich gegen die Tür. Versuchte, sie einzutreten. Viermal. Fünfmal.
Danach war Ruhe.
»Wenn er so weitermacht«, flüsterte Jette, »werden die Nachbarn uns die Arbeit abnehmen und die Polizei rufen.«
»Wegen nächtlicher Ruhestörung! Du hast recht. Wir brauchen nur das Fenster aufzureißen und zu schreien. Irgendwer wird schon reagieren.«
Doch bevor sie den Gedanken in die Tat umsetzen konnten, hörten sie ein Weinen. Und Bens Stimme.
»Ich habe Mina. Und jetzt raus mit euch, aber ein bisschen plötzlich!«
»Du meinst, manche Persönlichkeiten treten nach außen und manche sind ausschließlich für den inneren Bereich zuständig?«, fragte Imke.
Tilo nickte.
Die Faszination, die Imke empfand, überdeckte beinahe die Sorge um ihre Tochter. Sie hatte bereits gewusst, dass die verschiedenen Identitäten eines Multiplen in einem System organisiert waren, einem Team, wie Mina es nannte, aber dass ein solches System dermaßen perfekt aufgebaut war, verschlug ihr die Sprache.
»Es gibt unglaublich komplizierte und komplexe Verknüpfungen innerhalb dieses Systems«, sagte Tilo. »Und jeder hat darin seine klar definierte Aufgabe. Es ist der Scherbensammler, der alle Fäden in der Hand hält und das Team letztlich funktionieren lässt.«
»Der Scherbensammler?«
»Mina muss sich ganz allmählich an ihre traumatischen Erfahrungen erinnern. Schritt für Schritt. Würde sie alles auf einmal vor sich sehen, ginge sie daran zugrunde. Der Scherbensammler dosiert ihre Erinnerungen sozusagen.«
Schon die Namen waren eine Welt für sich.
Soraya. Die Wächterin.
Carlos. Der Türsteher.
Cleo. Die Kämpferin.
»Und der Scherbensammler hat keinen Namen?«, fragte Imke.
Tilo schüttelte den Kopf.
»Oder ich habe ihn noch nicht erfahren. Auch die kindlichen Identitäten, die in Mina schlafen, haben nicht unbedingt Namen.«
Er griff nach seinem Notizbuch und schlug es auf.
»Ein Phänomen, über das ich nachdenken muss.«
Imke schaute ihm beim Schreiben zu. Das Notizbuch ließ ihre Schuldgefühle wieder lebendig werden.
»Tilo«, sagte sie leise. »Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Es wäre schön, wenn du trotzdem wieder Vertrauen zu mir haben könntest.«
Er hob den Kopf, mit den Gedanken noch woanders.
Imke beugte sich zu ihm und küsste seine gerunzelte Stirn.
»Du hörst damit auf, ständig deine Unterlagen vor mir zu verstecken, und ich verspreche dir dafür, sie wie Luft zu behandeln.«
Tilo zog sie an sich.
»Und du hörst damit auf, dir ständig Sorgen um Jette und Merle zu machen, dafür verspreche ich dir, die Mädchen nie wieder in
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