Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
Vom Netzwerk:
an den Tisch, zog die Beine an und stützte die Arme auf die Knie.
    »Du weißt, dass ich das nicht darf.«
    »Mein Kind lebt mit diesem Mädchen zusammen. Ich habe keine Ahnung, wie gefährlich deine Patientin ist oder werden kann. Du bist mir Aufklärung schuldig, Tilo.«
    Er verkniff sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Er hatte keine Lust, sich mit Imke zu streiten. Es gab Wichtigeres zu tun.
    »Du hast Mina doch selbst gesehen«, sagte er.
    »Ich habe die Spitze des Eisbergs gesehen. Was ist mit dem Teil, der sich unter Wasser befindet?«
    Tilo musste unwillkürlich schmunzeln. Sie konnte noch so  ängstlich oder verzweifelt sein, ihre Lust an Bildern verlor sie dadurch nicht.
    »Den hat noch niemand zu Gesicht bekommen, nicht einmal Mina selbst. Der Einzige, der ihn kennen dürfte, ist der  Scherbensammler.«
    Befremdet schaute Imke ihn an und Tilo traf eine Entscheidung. Imke hatte recht, wenn sie auf Informationen bestand. Es ging um Jette und Merle und darum, dass er die Mädchen darin unterstützt hatte, ein Wagnis einzugehen, das nicht berechenbar war.
    »Was weißt du über dissoziative Identitätsstörung?«, fragte er.
    »Nicht genug. Früher habe ich einiges darüber gelesen und habe das aufgefrischt, indem ich ein bisschen im Internet recherchiert habe …«
    Sie richtete sich auf und schaute ihn zerknirscht an.
    »Ich wollte dich noch um Entschuldigung bitten, Tilo. Ich hatte nicht die Absicht, in deinem Notizbuch zu lesen. Es lag da und ich habe mir solche Sorgen gemacht und …«
    »Lass uns später darüber reden«, unterbrach Tilo sie. »Jetzt will ich versuchen, dir Minas Welt ein wenig verständlich zu machen.«
    »Danke.« Sie flüsterte das beinah und Tilo rückte seinen Stuhl näher an ihren heran und nahm ihre Hand. Und so saßen sie da, im schwachen Lichtschein der Kugellampe, die wie ein geheimnisvoller Himmelskörper auf dem Boden lag.
    Tilo erzählte und Imke hörte ihm zu. Durch ihr Spiegelbild im Glas des Wintergartens hindurch sahen sie hinaus in die Nacht, die ohne Sterne war und ohne jeden Laut.
     
    Donnas Knurren hatte sich in ein leises Grollen verwandelt. Ihr Fell war gesträubt. Sie hatte sich keinen Zentimeter von  der Stelle bewegt, duckte sich platt auf den Boden. Merle hielt den Atem an.
    Sie horchte, konnte aber nur ihren eigenen rasenden Pulsschlag hören. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Die Panik hielt sie gepackt.
    Hastig sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf das Perlhuhn aus Ton, das sie auf dem letzten Tierheimbasar erstanden hatte. Es hatte sie dreißig Euro gekostet, der reine Wahnsinn, aber sie hatte es unbedingt haben müssen. Der große, runde Leib, der schmale, kurze Hals und der kleine Kopf mit dem krummen Schnabel hatten sie immer gerührt.
    Jetzt würde sie das Huhn als Waffe benutzen.
    Sie nahm alle Kraft zusammen, um hochzukommen. Langsam streckte sie die Hand aus und ergriff das Huhn am Kopf. Dann löschte sie das Licht.
    Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es dauerte noch länger, bis Merle imstande war, sich der Tür zu nähern. Sie schlich über den Flur, das Huhn fest in der Hand. Es war glatt und kalt und schwer und gab ihr wenigstens ein bisschen Halt.
    Die Klinke der Badezimmertür quietschte.
    Erschrocken presste Merle die Lippen zusammen und schloss für zwei, drei Sekunden die Augen. Dann schob sie die Tür vorsichtig auf und ließ den Blick durch den Raum gleiten.
    Nichts Ungewöhnliches. Alles war wie immer.
    Doch die Erleichterung verschaffte ihr bloß eine kurze Verschnaufpause. Dann war die Küche an der Reihe.
    Langsam setzte sie einen Fuß vor den andern, immer in der Angst, eine Stelle zu erwischen, an der der Holzboden knarrte. Sie fragte sich, wo Julchen sich verkrochen haben mochte. Und betete, dass es vielleicht nur Mina war, die da im Dunkeln auf sie wartete. Mina saß nachts oft ohne Licht in  der Küche und versuchte, einen Albtraum abzuschütteln oder die Angst, die ihr immer wieder unter die Haut fuhr.
    Doch noch während Merle das dachte, wusste sie, dass ihr Gebet nicht erhört werden würde.
    Ein einziger Blick genügte.
    Da saß jemand auf dem Sofa. Reglos. Und unheimlich still.
    Merle fasste das Huhn fester. Ihre freie Hand tastete nach dem Lichtschalter.
    Ben!
    Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit ihm.
    Im ersten Moment fühlte sie Erleichterung, doch in der nächsten Sekunde spürte sie die Bedrohung, die in feinen Wellen von ihm

Weitere Kostenlose Bücher