Der Scherbensammler
war alles andere als stabil. Er durfte nichts riskieren.
Aber er musste sensibel vorgehen. Die Eltern begegneten ihrer Tochter mit großem Misstrauen. Ein falsches Wort, und ihr Argwohn hätte neue Nahrung gefunden.
»Da sind genug Worte in meinem Kopf«, erklärte die Patientin, »aber ich krieg sie nicht raus. Und die Leute gucken mich an und wundern sich und dann kann ich erst recht nichts mehr sagen.«
Tilo schob die Gedanken an Mina weg. Es war unprofessionell, die Distanz zu den Patienten zu verlieren. Wenn er sich gefühlsmäßig zu stark engagierte, war er nicht mehr in der Lage, gute Arbeit zu leisten. Doch genau das erwarteten seine Patienten von ihm - gute Arbeit. Alles andere schadete seinem Ruf.
Er schenkte der Patientin ein aufmunterndes Lächeln. Und war wieder ganz bei der Sache. Wie es sich gehörte.
Mina verschränkte die Arme vor der Brust. Manchmal konnte sie das Zittern einfach wegdrücken. Sie hatte inzwischen Übung darin.
»Alles in Ordnung.«
Wie ängstlich ihre Stimme klang. Wie klein. Sie hörte es selbst. Und merkte, wie ihr die Tränen kamen.
Heulsuse! Musst du immer gleich losflennen?
Mina hätte am liebsten geschrien. Gegen die Stimmen angebrüllt. Stattdessen duckte sie sich. Als könnte sie sich damit unsichtbar machen.
Jette sah sie auf einmal so sonderbar an. Sie verschwieg ihr etwas. Mina war sich ganz sicher.
»Wirklich. Ich bin okay.«
Deine Stimme bebt! Reiß dich doch zusammen!
Wie ging das, sich zusammenreißen? Wie konnte man eine sichere Stimme behalten, wenn in einem drin alles in Scherben fiel?
Jettes Blick wanderte zu der Zeitung, die auf dem Sofa lag. Nur kurz, dann kehrte er zu Mina zurück.
»Prima«, sagte sie, und man merkte ihr an, dass sie mit den Gedanken ganz woanders war. Sie hielt ihr den Brotkorb hin. »Sesam oder Kürbiskern?«
Mina fischte ein Brötchen aus dem Korb und hob ihr Messer auf. Dann ließ sie beides sinken. Es war Zeit für Cleo, die Kämpferin. Die ließ sich nicht für dumm verkaufen. Die ging allem auf den Grund.
Cleo stand auf und holte sich die Zeitung. Sie setzte sich wieder an den Tisch. Wie gut sich das Papier unter den Fingern anfühlte! Trocken und sauber. Vertraut.
Brutaler Mord in der alten Kleiderfabrik
Gestern Abend wurde in der ehemaligen Kleiderfabrik die grausam zugerichtete Leiche eines Mannes gefunden. Der Tote, Dietmar Kronmeyer, war Oberhaupt einer religiösen Gemeinschaft, die sich Wahre Anbeter Gottes nennt. Hauptkommissar Bert Melzig wollte sich zu den Begleitumständen der Tat noch nicht äußern. So ist auch noch völlig ungeklärt, ob der Mord religiöse Hintergründe hat.
Das war es also, was Jette aus der Fassung gebracht hatte. Cleo faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite, ohne weiterzulesen. Dieses Frühstück war wichtig. Sie brauchte Kraft für die kommenden Tage. Sie spürte, wie Jette sie anstarrte, und hob den Kopf. Jette sah aus, als hätte sie in der Nacht kein Auge zugemacht. Fast tat sie Cleo leid. Fast. Denn Mitleid schwächte und das konnte sie sich nicht leisten.
»Was ist denn los?« Merle schien eine Antenne für atmosphärische Schwingungen zu haben.
»In der alten Fabrik ist ein Mord passiert.« Jette schob Merle die Zeitung rüber.
Merle überflog den Artikel und sah Cleo fragend an.
Cleo schüttelte den Kopf. Ihr war übel. Das fehlte noch, dass sie jetzt schlappmachte! Sie atmete konzentriert gegen die Übelkeit an. Wie gern hätte sie sich den Mädchen anvertraut. Aber sie konnte sich solche Schnellschüsse nicht leisten. Dazu war sie schon zu oft enttäuscht worden.
»Ihr denkt … Ist es wegen meiner Klamotten? Und dem Blut?« Sie zeigte auf die Zeitung. »Glaubt ihr etwa, ich hätte damit etwas zu tun?«
»Hast du?« Merle sah ihr aufmerksam ins Gesicht.
»Nein! Ich hatte einen Unfall. Und der Autofahrer hat sich einfach aus dem Staub gemacht, diese Ratte!«
»Ein Unfall?« Jette beugte sich alarmiert vor. »Und der Fahrer hat Fahrerflucht begangen? Das musst du der Polizei melden.«
»Ist doch nichts passiert.« Gott! Wann würden sie sie endlich in Frieden lassen? »Kein Grund, die Pferde scheu zu machen.«
»Puh!« Jette strahlte vor Erleichterung. »Ich guck mir wirklich zu viele Filme an. Das Blut, dein Zustand gestern und dann der Mord … Im ersten Moment hab ich befürchtet, der … Mörder hätte vielleicht versucht, auch dich … und du wärst ihm gerade noch so … du weißt schon.«
Auch Merle wirkte, als sei ihr ein Stein vom
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