Der Schiffsjunge der Santa Maria
sein. Es war ein warmer, wolkenloser Tag. Ein leichter Wind ließ die Segel knattern, das Schiff tanzte munter auf den Wellen. Luis wurde etwas flau im Magen. Klar, er wollte Seemann werden, so wie sein Vater. Aber eigentlich war er noch nie auf die offene See hinausgefahren. Bisher hatte er Schiffe nur dann betreten, wenn sie fest vertäut im Hafen lagen. Und jetzt war ringsum kein Stückchen Land mehr zu sehen. Nur die beiden Karavellen, die der Santa Maria folgten, und das endlose Meer, das fern am Horizont mit dem strahlend blauen Himmel verschmolz.
Das Schiff schaukelte unter Luis’ Füßen. AlleFarbe war aus seinem Gesicht gewichen. Ihm fiel ein, dass er nicht schwimmen konnte. Er hielt sich am Großmast fest, neben dem er stand. Die Männer, die an ihm vorbeigingen, musterten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Mitleid.
»Da ist er, Admiral!«
Der Matrose, der Luis gefunden hatte, war zurück. Neben ihm stand ein grauhaariger Mann mit einer Adlernase. Er funkelte Luis grimmig an.
»Wer bist du? Und was willst du auf meinem Schiff?«
Luis’ Magen machte einen Purzelbaum. Er suchte nach Worten.
»Ich, äh, also ich heiße Miguel. Ich stamme aus Málaga. Und ich …«, er nahm all seinen Mut zusammen und trat einen Schritt vor, »ich möchte mit Euch nach Zipangu fahren, Admiral Kolumbus. Wenn Ihr gestattet.«
»WAS WILLST DU???« Kolumbus brüllte so laut, dass Luis einen Schritt zurückwich und sich wieder am Großmast festhielt. »WAS BILDEST DU DIR EIN? SCHLEICHST DICH EINFACH SO UNGEBETEN AUF MEIN SCHIFF!« Kolumbus war rot geworden wie eine Klatschmohnblüte im Hochsommer. Er fuchtelte wild mit beiden Armen. »ICHWERDE DICH INS MEER WERFEN LASSEN. DANN KANNST DU NACH ZIPANGU SCHWIMMEN!«
»Kann ich Euch behilflich sein, Admiral?«
Luis fuhr herum. Jemand hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. Es war der einäugige Pirat, den er schon gestern getroffen hatte. Auch das noch!, dachte er. Vor mir ein zeternder Admiral und hinter mir der finsterste Matrose der sieben Weltmeere. Vielleicht war meine Idee doch nicht so gut.
»Dieser Junge hier«, fuhr Kolumbus mit energischer Stimme fort, »hat sich heimlich auf das Schiff geschlichen. Am liebsten würde ich ihn gleich über Bord werfen.« Er wies mit der Hand auf das Meer, das nur vier Schritte neben Luis unter der Bordwand schäumte.
Der Einäugige blickte zu Luis hinunter. Luis starrte auf die Planken, um nicht in dieses durchdringende Auge schauen zu müssen. »Du hast mich ausgetrickst«, flüsterte er so leise, dass nur Luis es hören konnte. »Gestern Abend. Bist mit der letzten Kiste an Bord geblieben, was?«
Luis presste die Lippen aufeinander. Der Einäugige umklammerte mit seiner starken Hand Luis’ Schulter. »Was willst du hier?«
»Nach Zipangu«, flüsterte Luis und versuchte vergeblich, sich aus dem Klammergriff zu befreien. Er hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
»Was flüstert ihr da?«, fragte Kolumbus mit scharfer Stimme.
»Nichts von Bedeutung«, sagte der Einäugige. »Wenn Ihr meine Meinung hören wollt, Admiral: Ich finde nicht, dass wir den Jungen über Bord werfen sollten. Jedenfalls nicht, bevor er uns nicht seine Geschichte erzählt hat.«
»Dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt, Polifemo!«
Kolumbus funkelte den Einäugigen wütend an. »Aber du hast recht. Also, Junge, erzähl uns deine Geschichte!«
Der Einäugige nahm die Hand von seiner Schulter und Luis trat einen Schritt vor.
»Ich heiße Miguel und komme aus Málaga. Meine Eltern sind beide tot. Sie sind, äh, vor ein paar Jahren beim Einsturz unseres Hauses gestorben. Und seitdem …« Luis stockte.
»Seitdem
was
?«, fragte Kolumbus.
Wer wagt, gewinnt, dachte Luis und gab sich einen Ruck.
»Seitdem fahre ich zur See.«
»Du bist ein Schiffsjunge?«, fragte Kolumbus erstaunt. »Dafür bist du noch etwas zu jung, oder? Wie alt bist du?«
»Im nächsten Februar werde ich elf.«
»Und wie lange fährst du schon zur See?«
»Seit drei Jahren.«
»Auf welchen Schiffen bist du gefahren?«
»Auf, äh, portugiesischen. Von Lissabon aus. Mein Onkel wohnt dort. Einmal bin ich sogar bis nach Guinea gefahren.«
Ich lüge, dachte Luis, dass sich die Schiffsplanken gleich biegen müssten.
»So, so …«, sagte Kolumbus und strich sich durch sein graues Haar. »Miguel de Málaga, zehn Jahre alt, seit drei Jahren auf portugiesischen Handelsschiffen unterwegs. Nun denn …«
»Soll ich ihn jetzt über Bord werfen?«, fragte
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