Der Schiffsjunge der Santa Maria
Europa zu segeln. Luis und Antonio durften mit ihm auf die Niña. Auf der Fahrt gerieten sie in allergrößte Schwierigkeiten. Es war Winter geworden, sie fuhren viel weiter nördlich als auf der Hinfahrt und hatten immer wieder mit schweren Stürmen zu kämpfen. In einem dieser Stürme wurden die beiden Karavellen getrennt. Doch sie schafften es und erreichten nach mühevollen Wochen am 15. März wohlbehalten Palos. Die Niña fuhr zur Mittagszeit in den Hafen ein, die Pinta einige Stunden später. Von hier aus waren sie vor über sieben Monaten aufgebrochen,um den Westweg nach Indien zu finden. Luis war ein unglücklicher, elternloser Junge gewesen, der verzweifelt von zu Hause geflohen war. Jetzt gehörte er nicht nur zu den umjubelten Entdeckern um Christoph Kolumbus, sondern hatte auch noch seinen tot geglaubten Vater wiedergefunden.
Er und die anderen Seeleute strahlten mit der Sonne um die Wette, als sie vom Schiff stiegen und von der Bevölkerung mit ohrenbetäubendem Jubel empfangen wurden. Hunderte von Menschen strömten in den Hafen, als die Pinta dort anlegte. Wie ein Sturmwind hatte sich die Nachricht, dass Kolumbus tatsächlich Land gefunden hatte, in der Stadt verbreitet. Die entführten Indios blickten verwirrt und hilflos in die Menge.
Luis hielt die Hand seines Vaters. Gemeinsam schritten sie durch das Spalier der Menschen und genossen den Applaus und die vielen Hände, die auf ihre Schultern klopften.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Luis Antonio, als sich die erste Aufregung gelegt hatte. Sie hatten sich in einer ruhigeren Ecke des Hafens auf eine große Taurolle gesetzt und beobachteten den Trubel aus einiger Entfernung.
»Heute Abend soll hier ein großes Fest stattfinden«, sagte Antonio. »Das habe ich eben aufgeschnappt. Und morgen beginnt schon die nächste Reise für uns. Diesmal allerdings auf dem Land.«
Luis schaute seinen Vater fragend an. Antonio lächelte verschmitzt.
»Der Admiral hat’s mir heute Morgen erzählt. Er will sofort zum Königspaar aufbrechen. Nach Barcelona. Um ihnen Bericht zu erstatten. Die Indios und einige ausgewählte Männer sollen ihn begleiten. Und wir gehören dazu.«
Luis sprang von der Taurolle. »Zu Isabella und Ferdinand? Nach Barcelona? Das ist ja WAHNSINN!«
»Ich hoffe«, sagte Antonio, »der Admiral wird uns bis dahin ein paar frische Kleider organisieren. Und zum Friseur könnten wir beide auch mal wieder gehen, meinst du nicht? Aber bis Barcelona werden wir ja einige Tage unterwegs sein.«
»Was machen wir bis dahin?«, fragte Luis. Er war immer noch ganz aufgeregt. »Ich meine, bis zum Fest und bis morgen früh?«
»Wir könnten in eine Kneipe gehen und etwas essen«, sagte Antonio. »Etwas
Anständiges
essen. Und etwas
Anständiges
trinken. Nach acht Wochen mit Bohnensuppe, Pökelfleisch und abgestandenemWasser könnte ich einen ordentlichen Happen und einen kühlen Schluck gut vertragen. Was meinst du?«
Luis atmete tief durch. Er musste an die Kneipe denken, die seine Stiefmutter Juana und der dicke Rodrigo führten. Sie lag gleich um die Ecke. Luis presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Antonio. »Aber wir sollten trotzdem dorthin gehen. Es gibt einiges zu bereden.«
Rodrigo schlief noch. Juana war gerade dabei, den gröbsten Dreck aus der Schankstube zu fegen. Die Tür zur Straße stand offen.
»Wir haben noch geschlossen«, keifte sie, als Luis und Antonio die Schankstube betraten. »Kommt heute Abend wieder!«
»Heute Abend sind wir zu einem Fest eingeladen«, sagte Antonio mit freundlicher Stimme. »Wir bleiben auch nicht lange. Ich wollte dir nur erzählen, dass du dir um diesen Jungen hier keine Sorgen mehr machen musst. Er ist wohlauf.«
Juana blickte die beiden zunächst verständnislos an. »Ich verstehe nicht …« Plötzlich fiel ihr der Besenaus der Hand. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott. Das kann doch nicht wahr sein! Du bist … du bist Antonio. Was ist mit deinem Auge passiert? Und das ist Luis!«
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ihr Gesicht war kreidebleich.
»Wie ist das möglich?«, hauchte sie. »Ich dachte, ihr seid beide tot.«
»Das ist ein lange Geschichte«, sagte Antonio. »Ich werde sie dir ein andermal erzählen.«
»Aber …«
»Nicht heute«, sagte Antonio. »Ich werde wiederkommen, in ein paar Wochen. Du hast inzwischen ein neues Leben begonnen. Das ist gut so und das will ich nicht stören.
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