Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Arm.
»Bentzon, was zum Henker ist da geschehen? Warum hast du gesagt, dass …«
Niels unterbrach ihn: »Sie hat ihn gesehen.«
»Ihn?«
Niels ging weiter, schob den Mann vor sich zur Seite und studierte die Gesichter der Entgegenkommenden.
»Bentzon!«
Auf der anderen Seite der Schienen standen zwei Mädchen, die noch immer schrien. Warum gingen sie nicht nach Hause, wenn sie den Anblick des Blutes nicht ertrugen?, fragte Niels sich. Er sah in ihre Gesichter, eins nach dem anderen, als er Leons Hand auf seiner Schulter spürte.
»Es ist vorbei, Niels. Sie ist gesprungen.«
»Irgendjemand war hinter ihr her.«
»Sehen wir zu, dass wir sie identifiziert bekommen.«
Niels unterbrach ihn: »Nein, Leon. Hör mir zu. Sie hatte Angst einzuschlafen. Fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Sie hatte panische Angst vor dem, was ihr im Schlaf drohte, wenn es ihr nicht gelang, sich wach zu halten.«
»Niels …«
»Hör mir zu. Sie ist gestorben, um dem Schlaf zu entgehen. Um ihm zu entkommen. Er ist hier irgendwo unter den Schaulustigen.«
Leon sah sich um. Es hatten sich mindestens hundert Personen versammelt. Über die Hälfte davon waren Männer.
»Was stellst du dir vor?«
»Wir nehmen die mit, alle.«
Leon schüttelte den Kopf.
»Doch, das ist die einzige Möglichkeit, wenn …«
»Niels, wir sind hier fertig, komm.«
Niels spürte seine Wut bis in die Fingerspitzen. Am liebsten hätte er Leon eine geklebt. Stattdessen betrachtete er die Gesichter auf der anderen Seite der Absperrung. Viele davon waren ihm zugewandt. Angetrunkene Jugendliche auf dem Rückweg aus der Stadt. Ein paar Geschäftsleute, die hier runtergekommen waren, um sich Sex zu kaufen. Stimmte das? Oder war das nur wieder das tief in Niels verankerte Misstrauen gegenüber Männern mittleren Alters, die graue Anzüge trugen und um diese Uhrzeit noch in der Stadt unterwegs waren?
»Komm!«
Leon zog ihn hinter sich her. Niels gab den Widerstand auf und folgte dem Einsatzleiter wie ein braver Junge. Dann sah er ihren Kopf. Zerschmettert, das Blut hatte den hellen Schotter um sie herum dunkel gefärbt. Blut . Der Saft des Lebens, der aus ihr sickerte – vorbei an Steinen und rostigem Stahl, bis er von der trockenen Erde der Stadt aufgesaugt wurde. Niels richtete seinen Blick noch einmal auf die Leute. Auf sie alle. Und spürte, dass es das war, was diese Frau so unter Druck gesetzt hatte. Das da draußen. Die Stadt . Tränen stiegen ihm in die Augen. Niemand – niemand sollte ihn weinen sehen, weshalb er den Blick senkte. Sie gingen zurück auf die Brücke, wo noch immer zahllose Men schen hinter der Absperrung standen. Eine junge Mutter beschimpfte einen Beamten, weil sie den Vorfall nicht besser ab geschirmt hatten: Ihre Tochter hätte einen Schock bekommen, und die Mutter verlangte auf der Stelle die Hilfe eines Psychologen. Niels blickte noch immer zu Boden und erlebte die Welt durch Leon – das hier war Leons Wirklichkeit. Der Einsatzleiter, der die Bevölkerung schützen und für alles den Buckel hinhalten musste. Warum rennst du denn um diese Uhrzeit noch mit deiner Scheißtochter durch die Gegend?, hätte Niels der Mutter am liebsten zugerufen.
Auf dem ganzen Weg zum Auto sah Niels nicht ein einziges Mal auf. Leon briefte seine Leute, die sich um ihn geschart hatten. »Drogen«, hörte er, bevor Leon sich aus der Menge befreite und wieder Niels’ Arm nahm.
»Da hörst du es: eine Drogenabhängige auf einem schlechten Trip. Nicht einmal Gandhi hätte sie davon abbringen können.«
»Das war kein Selbstmord.«
»Niels? Ich weiß, dass das schwer ist.«
»Da war irgendeiner, den sie gefürchtet hat. Mehr als den Tod.«
»Das ist so, wenn man auf einem schlechten Trip ist. Das kennen wir doch«, sagte Leon ungeduldig und holte tief Luft. »Niels. Sie ist vor den Augen von weit mehr als hundert Menschen gesprungen. Da können wir von nichts anderem als einem Selbstmord ausgehen.«
Leon zögerte.
»Hast du gesagt, dass du auch springst, wenn sie es tut?«
Niels sah Leon an. Er fühlte sich schlecht. »Ich weiß nicht. Es war verdammt schwer mit deiner Stimme im Ohr.«
»Wie meinst du das?«
»Ach nichts.«
Irgendjemand unterbrach sie und flüsterte Leon etwas zu. Dann wandte sich der Einsatzleiter wieder Niels zu.
»Bentzon, du verstehst dich aufs Reden. Deshalb bist du ja so gut bei dem Job, nicht wahr? Wir anderen können das nicht. Wir sind mit den Worten nicht so geschickt wie du. Sind wie hölzerne Puppen, an
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