Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
sehen. Der Gedanke gab ihm sogar ein bisschen Trost: Er war ein Astronaut auf der Reise ins Unbekannte, ein Entdeckungsreisender, ein moderner Columbus.
»Ich löse jetzt deinen Kopf«, sagte Bergmann mit professioneller Überzeugung zu Hannah. »Du darfst dich erst bewegen, wenn ich es sage.«
35.
Autobahn, 23.40 Uhr
»In einem Wald?« Leon schüttelte den Kopf. »Was zum Henker macht Bentzon in einem Wald?«
»Das ist das letzte Signal, das wir von ihm hatten«, sagte der Assistent, der den Wagen fuhr.
Es waren nur wenige andere Autos auf der Autobahn, sodass sie die Sirene ausgeschaltet hatten. Nur das Blaulicht blinkte in die Sommernacht. Blau in Blau, dachte Leon, was für ihn schon eine außergewöhnlich poetische Betrachtungsweise war.
»Ist die nordseeländische Polizei bereit?«
»Ja. Zwanzig Mann, wie bestellt.«
»Und Hunde.«
»Zwei Patrouillen. Sie warten auf uns.«
»Geht’s nicht ein bisschen schneller?«
Der Assistent sah zu seinem Chef hinüber. Meinte er das ernst? »Wir fahren schon 210«, sagte er.
***
Leon sprang aus dem Wagen, noch ehe er richtig zum Stillstand gekommen war. Die zwanzig nordseeländischen Beamten hatten sich verteilt, einige rauchten, andere unterhielten sich. Leon war wütend.
»Hören Sie«, rief er.
Die Zigaretten wurden ausgedrückt, und das Gerede ver stummte. Leon – seit vielen Jahren Einsatzleiter bei der Polizei in Kopenhagen und als verdammt harter Hund bekannt – brauchte keine Einführung.
»Ein Kollege steckt in der Klemme«, brüllte Leon. »Der letzte Standort war zwei Kilometer entfernt, im Wald. Sie bekommen die präzisen Koordinaten. Ein SOS wurde gesendet um 23.20 Uhr lokale Zeit.«
»Warum reagieren wir erst jetzt?«, fragte eine junge Stimme in der Nacht. Leon suchte nach dem Gesicht. Wie sah der Idiot aus?
»Weil es Zeit gebraucht hat, Bentzons Hilferuf zu decodieren«, fauchte Leon. »Genug geredet! Hundepatrouille?«
»Ja«, kam es zweimal gehorsam aus dem Dunkel.
»Wir haben Bentzons Weste und noch ein paar andere Bekleidungsstücke aus seinem Schrank. Lassen Sie die Hunde daran schnuppern, und beginnen Sie mit zweihundert Metern Abstand zwischen sich. Verstanden?«
»Wir anderen fahren zu den exakten Koordinaten und sehen, was uns die Nacht zu bieten hat. Abmarsch!«
»Verstanden.«
»Niemand kennt die Nacht«, sagte Leon zu sich selbst, als er sich auf den Beifahrersitz setzte und das GPS einschaltete, während sein Kollege hinter dem Steuer Platz nahm.
»Haben Sie was gesagt, Chef?«
»Ja, fahren Sie!«
36.
Regan Ost, 23.55 Uhr
Niels hing in einer höchst unangenehmen Position. Seine Hände schmerzten. Sie waren auf dem Rücken gefesselt und drückten sich gegen die Metallschiene. Bergmann hatte es nicht gewagt, ihn loszumachen, um ihn anständig auf das Metall spannen zu können. Aus gutem Grund. Hätte Niels nur eine Hand frei gehabt, er hätte gekämpft. Hannah hatte den Platz eingenommen, auf dem bis vor Kurzem er gesessen hatte: an der Wand. Er roch die Salzlösung, die nur wenige Zentimeter unter ihm stand. Der Geruch erinnerte ihn ans Meer. Die Nordsee. Hannahs Gesicht in der Wintersonne. Sand …
»Sind Sie bereit?«, fragte Bergmann und zeigte ihm ein altes Bild: »Sie müssen keine Angst haben. Ich werde Sie wiederbeleben.«
»Niels«, sagte Hannah. »Versuch, deine Angst vor dem Tod loszulassen.« Hannah schluchzte auf, bevor sie den Satz vollenden konnte: »Dann hast du größere Chancen, dass alles klappt.«
»Sie heißt Maria«, sagte Bergmann. »Häufig umgeben uns unsere Liebsten und sehen uns an.«
»Maria«, wiederholte Niels.
»Ich lasse Sie jetzt runter.«
»Nein«, flüsterte Hannah.
Niels versuchte, ihre Augen zu sehen, aber er konnte den Kopf nicht bewegen.
»Ich will noch was sagen«, sagte Hannah.
Sie warteten ein paar Sekunden, während Hannah sich sam melte. »Du kommst wieder, Niels«, sagte sie weinend. »Du kommst wieder, hörst du!«
»Tun wir’s. Jetzt!«, befahl Niels.
Hannah schrie. Der Schlafforscher löste den Mechanismus, während Niels darüber nachdachte, wie die Menschen auf den Tod reagierten. Man kann die Menschen in drei Gruppen einteilen, dachte er: Die einen werden ohnmächtig, geben auf und machen dicht. Die anderen brechen zusammen, versuchen zu handeln und klammern sich flehend an das Leben, und die dritten nehmen das Ganze mit einer ungeheuren, fast fatalistischen Ruhe. Wenn es sein muss, dann muss es halt sein . Wir müssen ja alle irgendwann sterben
Weitere Kostenlose Bücher