Der schlafende Engel
dass du Angst hast, Gabe könnte sich auf die Suche nach dem König machen und dabei riskieren, dass er ihm den Kopf abreißt«, sagte Caro.
»Etwas weniger bildlich hätte auch genügt, aber, ja, du hast recht.«
»Na ja …« Sie verzog das Gesicht. »Verstehst du denn nicht? Wir haben vielleicht noch ein ganz anderes Problem am Hals.«
April sah zwischen den beiden Mädchen hin und her. »Was denn? Los, raus mit der Sprache.«
»Die Gefahr, dass der König ihm etwas tun könnte, ist nicht die einzige. Wenn Gabriel wieder weiß, wer der König ist, besteht durchaus die Chance, dass er sich auch an alles andere erinnert. Und Gabe ist ein sehr sensibler Mann, oder nicht? Bestimmt hat er die letzten hundert Jahre im festen Glauben gelebt, dass er sich wegen des Versprechens, das er Lily auf ihrem Sterbebett gegeben hat, nie etwas zuschulden kommen lassen hat. Und dann glaubt er plötzlich, er sei Jack the Ripper? Welche Auswirkung hat das deiner Meinung nach auf ihn?«
Oh Gott, dachte April. Es wird ihn zerstören. Sie erinnerte sich noch an das Entsetzen und die Reue auf seinen Zügen, als er gestanden hatte, dass er für Jessicas Verwandlung verantwortlich war. Jahrzehntelang hatte er die Reue wie eine Dornenkrone auf dem Kopf getragen. Was würde erst passieren, wenn er feststellte, dass er ein Killer war, wie er im Buche stand? Wieder wollte April sich auf Davina stürzen, doch die Vampirin wich mit einer geschickten Bewegung aus.
»Du wusstest es die ganze Zeit! Wieso hast du ihm nicht geholfen?«
»Ja, klar«, ätzte Davina. »Natürlich ist wieder der Vampir schuld. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, April. Schon mal gehört?«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Muss ich es dir erst aufzeichnen, April? Was hat wohl diesen Sinneswandel bei Gabriel bewirkt? Hundert Jahre lang hat er keine Ahnung von seinem wahren Naturell, und dann kommst du daher, und schon stürzt der Himmel über ihm zusammen.«
»Ist das vielleicht meine Schuld?«
»Ich glaube, Davina will damit nur sagen, dass du ihn emotional aus der Reserve gelockt hast«, sagte Caro. »Deine Liebe hat den Wunsch in ihm geweckt, wieder zu leben.«
Oh Gott , dachte April. Es ist alles meine Schuld .
»Wenn er leben will, hat er sich den verkehrten Ort ausgesucht«, warf Davina ein. »Der König ist ein Vampir von Geburt an und damit etwa zehnmal stärker als ein verwandelter wie Gabriel.«
»Das hilft uns jetzt auch nicht weiter«, sagte Caro. »Weißt du, wo er ist?«
»Nein.«
»Doch, sie weiß es!«, schrie April. »Sie muss es wissen.«
Davina hob die Hand.
»Wenn ihr mich vielleicht ausreden lassen würdet.« Sie stand auf und strich ihre zerknitterte Bluse glatt. »Ich wollte gerade sagen, dass ich es nicht weiß, aber jemanden kenne, der es uns vielleicht sagen kann. Los, holt eure Mäntel.«
»Wohin gehen wir?«
»Auf eine Party.«
Siebenundzwanzigstes Kapitel
S ie konnten die wummernden Bässe aus der High-tech-Anlage bereits auf der Swain’s Lane hören. Vor den Friedhofstoren hatten zwei bullige, im obligatorischen Schwarz gekleidete Türsteher Posten bezogen. Einer von ihnen hatte ein Klemmbrett in der Hand, und zwischen zwei silbernen Pfeilern war sogar ein samtbezogenes Absperrseil gespannt.
»Eine Party auf dem Friedhof? Wie um alles in der Welt haben sie dafür eine Genehmigung bekommen?«, wunderte sich April.
»Der Friedhof gehört einer Stiftung. Vermutlich sind sie froh über jedes Pfund, das sie verdienen können«, erwiderte Caro.
Davina schüttelte den Kopf. »Viel wahrscheinlicher ist, dass Vampire die Stiftung infiltriert haben und die Veranstaltung deshalb abgenickt wurde.« Sie lächelte sarkastisch. »Und Partys sind nun mal unser Ding.«
April versuchte, sich Miss Leicesters Gesicht vorzustellen, als sie erfahren hatte, dass eine Horde wild gewordener Teenager zu ohrenbetäubender Musik auf ihrem Friedhof tanzen würde, aber es gelang ihr beim besten Willen nicht. Andererseits war Miss Leicester trotz ihrer Hingabe, mit der sie sich um den Highgate Cemetery kümmerte, bloß eine einfache Angestellte, die notgedrungen die Anweisungen befolgen musste, die sie bekam.
»Die lassen uns doch nie im Leben rein«, flüsterte April.
»Du vergisst wohl, mit wem du hier bist«, gab Davina zurück. »Mich hat noch kein Türsteher wieder weggeschickt.«
April und Caro warteten im Hintergrund, während Davina selbstbewusst auf den Mann mit dem Klemmbrett zusteuerte. Sie beugte sich vor und
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