Der schlafende Engel
Lebanon«, rief Davina über das Hämmern der Bässe hinweg.
»Wow«, raunte Caro, als sie vor den gewölbten Mauern standen, vor denen sich zahllose Gestalten tummelten – allem Anschein nach diente das rund angelegte Areal als Tanzfläche. Im Schutz des wabernden Trockeneises und der zuckenden Lichter auf der Bühnenkonstruktion schoben sich die Mädchen durch das Gewühl – vermutlich war dies der Grund gewesen, weshalb vor ein paar Tagen die Lastwagen aufs Gelände gefahren waren. Davina führte sie zu einer Steintreppe, von der aus sie den Kreis überblicken konnten. Vereinzelt ragten Köpfe und Arme aus dem Meer aus Flammen und Nebel. Sie gingen weiter zu einer behelfsmäßigen Bar, die in der Nähe der Katakomben aufgebaut worden war.
April sah zu Davina hinüber. Falls es ihr etwas ausmachte, nur wenige Meter von der Stelle entfernt zu sein, wo ihr Bruder Layla ermordet hatte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. April konnte sich nicht überwinden hinüberzusehen. Sobald sie die Augen schloss, sah sie unweigerlich Laylas bleiches Gesicht, ihre weit aufgerissenen Augen und baumelnden Beine vor sich. Denkdaran , ermahnte sie sich. Denk immer daran, wozu diese Kreaturen fähig sind.
Fröstelnd schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch. Caro, der das Ambiente inzwischen ebenso wenig auszumachen schien wie Davina, kehrte mit einem Bier für sich und April von der Bar zurück.
»Das ist echt abgefahren«, sagte sie.
»Du bist nicht hier, um dich zu amüsieren«, schnauzte April sie an.
»Hey, krieg dich wieder ein, alter Miesepeter«, gab Caro zurück. »Ich weiß ja, dass du dir Sorgen um Gabe machst, trotzdem sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen, okay?« Ihr Blick wanderte über Aprils Schulter hinweg. »Außerdem sieht es ganz so aus, als hätten wir gleich ein ganz anderes Problem am Hals.«
Chessy. Sie kam mit Ling, Simon und einer Handvoll Schlangen im Schlepptau, die ihr wie eine königliche Entourage folgten, geradewegs auf sie zu. Ein Blick in ihr Gesicht verriet April, dass es ein Riesenfehler gewesen war, hierherzukommen.
»Was willst du denn hier?«, fragte Chessy und warf Davina einen vernichtenden Blick zu. »Willst du, dass ich dir noch eine Lektion erteile?«
»Versuch’s doch.« Davina trat vor. »Ich bin allerdings nicht sicher, ob es diesmal auch so einfach werden wird.«
Lächelnd wandte sie sich an Ling.
»Vielleicht solltest du ja deine hübsche Freundin bitten. Immerhin schuldet die kleine Ling Chessy doch einen Gefallen, oder?«
»Halt die Klappe!«, fauchte Chessy.
Unsicher sah Ling Simon an.
»Wovon redet ihr überhaupt?«
»Ehrlich gesagt, war es sogar richtig süß«, fuhr Davina mit einem höhnischen Grinsen fort. »Der böse, böse Calvin war so gemein zu dir, und deshalb hat ihn sich deine allerbeste Freundin anständig vorgeknöpft.«
»Ich warne dich«, raunte Chessy. April sah, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Worauf spielte Davina an? Eigentlich sollte sie doch herausfinden, wo sich der König aufhielt – und Gabriel –, doch sie schien lediglich in alten Wunden bohren zu wollen.
»Komm schon, Chess. Ich dachte, du willst, dass die ganze Welt erfährt, was du mit dem Jungen angestellt hast. Für mich klingt es jedenfalls so, als hätte er es verdient.«
Ling starrte Chessy mit aufgerissenen Augen an.
» Du warst das? Du hast Calvin getötet?«
Chessy trat zwei Schritte auf Davina zu, die sich jedoch nicht von der Stelle rührte.
»Denk an die Regeln«, warnte sie. »Aber damals hast du das ja auch nicht getan, was? Den armen toten Jungen einfach April vor die Haustür zu legen … na, na, na. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Big Boss begeistert davon war, Chessy«, fuhr Davina fort.
»Halt endlich die Klappe«, schnauzte Ling sie an. »Was weißt du schon? Du gehörst doch überhaupt nicht mehr zu uns.«
»Oh, jetzt heißt es also schon ›uns‹, ja?«, meinte Davina. »Hat Chess dir versprochen, dich in unser wunderbares Leben einzuführen?«
Ein Lächeln breitete sich auf Lings Zügen aus. »Ja«, antwortete sie und sah Chessy beinahe bewundernd an. »Heute Nacht.«
»Nein!«, rief Simon, packte Lings Hand und riss sie herum. »Das kannst du nicht machen.«
»Wieso denn nicht?« Ling riss sich los. »Ich bin nicht wie du. Ich brauche all diese Schwächlinge um mich herum nicht.« Sie sah Caro an. »Wieso gehst du nicht zurück zu ihr? Genau das willst du doch die ganze Zeit schon.«
»Ling, mach keinen
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