Der schlafende Engel
nicht.«
»Dann stirbst du auch!«, schrie sie und versuchte, sich auf April zu stürzen. April riss den Arm hoch, doch Chessy kam nicht so weit, denn Davina schnellte vor und schleuderte Chessy zu Boden.
»Lauf, April!«, schrie sie. »Los!«
Das musste sie ihr nicht zweimal sagen. April spurtete den Kiesweg hinab und kam schlitternd vor dem Hauptweg zum Stehen, ehe sie weiter in Richtung der Treppen hetzte. Ihre Füße brannten, als sie den Hof erreichte und auf das Tor zulief.
»Hier rüber!«, rief eine vertraute Stimme. »April! Hier entlang!«
»Caro!«, rief April und warf die Arme um ihre Freundin. »Du lebst! Gott sei Dank, oh Gott sei Dank!«
»Ehrlich gesagt, habe ich das einzig und allein Davina zu verdanken«, sagte Caro. »Sie hat unsere Supervamps überwältigt und uns herausgeschafft.«
»Uns?« April sah sich um. Erst jetzt bemerkte sie Simon, der sich über eine Gestalt am Boden beugte, während der Türsteher mit grimmiger Miene hinter ihm herumhantierte.
»Alles in Ordnung, Simon?«, fragte April und sah Caro an. »Ist das Ling?«
Caro nickte. »Sie hat überlebt. Aber nur knapp.«
In diesem Moment ertönte die Sirene eines Krankenwagens, der die Swain’s Lane heraufgerast kam. Sie konnte nicht länger warten.
»Kümmere dich um sie«, sagte sie und drückte Caro einen Kuss auf die Wange. »Ich muss los.«
»Nein, April!«, rief Caro und hielt ihre Hand fest. »Warte auf die Polizei. Sie sollen sich darum kümmern. Es ist zu gefährlich – sieh dir Ling an, um Himmels willen!«
April schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nicht vor, jemanden zu verfolgen«, rief sie und lief den Hügel hinauf. »Ich muss nach Hause.«
Achtundzwanzigstes Kapitel
D er Koffer lag immer noch unter ihrem Bett. April zerrte ihn hervor und kippte ihn um, sodass der gesamte Inhalt herausfiel. »Wo ist es? Los, mach schon«, flüsterte sie hektisch, während sie die Sachen ihres Vaters durchwühlte, zwischen Papierschnipseln und Notizen kramte. Sie musste sie finden – jene Information, die ihr verraten würde, was sie wissen musste.
Aber in Wahrheit weißt du es doch längst, oder ?, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Du brauchst den Umschlag gar nicht. Du weißt es doch auch so.
Chessy hatte sie nur quälen wollen, so viel stand fest. Vampire waren bösartig und gemein, sie waren Meister der Psychospielchen, doch was sie über die Fotos auf Aprils Handy gesagt hatte, war nicht von der Hand zu weisen. Nicht wenn April ehrlich zu sich selbst war. In Wahrheit hatte sie es schon immer gewusst, irgendwo im hintersten Winkel ihres Bewusstseins, nur war sie weder fähig noch bereit gewesen, sich damit zu konfrontieren.
April zog ein Foto heraus – ein Schnappschuss von ihr und ihrem Vater am Ufer von Loch Ness. Es war jenes Foto, das so viele glückliche Erinnerungen heraufbeschworen hatte, als es ihr vor einigen Monaten im Keller in die Hände gefallen war. Heute hingegen beschwor es nichts als Fragen herauf: Wieso hatte es im Haus der Dunnes niemals Familienfotos wie dieses gegeben? Das hatte Chessy andeuten wollen, als sie den Ordner auf Aprils Handy durchgesehen hatte. Wieso nicht? Und, was noch viel wichtiger war: Wieso gab es kein einziges Foto von ihr in Silvias Haus? Wann immer sie bei ihren Freundinnen gewesen war, hatte sie all die Fotos in ihren Häusern gesehen – silberne Rahmen auf dem Fensterbrett, Schnappschüsse an der Kühlschranktür oder Bildschirmschoner auf dem Familien-Computer: Fotos von Jungen und Mädchen mit bunten Hütchen auf dem Kopf, auf niedlichen Kinderfahrrädern, vor dem liebevoll geschmückten Christbaum. Aber nicht hier, nicht im Dunneschen Haushalt. Wieso nicht, verdammt noch mal? Es war seltsam. Sehr, sehr seltsam. Doch die eigentliche Frage lautete: Wieso fiel April all das erst jetzt auf? Sie hatte niemals nachgehakt, weshalb ihre Eltern nicht die Polaroidkamera gezückt hatten, wenn die Geburtstagstorte hereingebracht wurde oder wenn sie beim Weitsprung eine Medaille gewonnen hatte. Warum hatte sie nie gefragt? Weil sie es tief in ihrem Innern stets gewusst hatte?
Was gewusst ?, fragte die Stimme. Was genau willst du denn wissen?
April zog ein weiteres Foto heraus. Es zeigte sie mit acht oder neun Jahren in Schuluniform. Es war das Foto, das ihr Vater offenbar als Lesezeichen für eines seiner Bücher benutzt hatte. Sie blickte auf ihr strahlendes Gesicht, so unschuldig, so fröhlich. Wie mochte sie wohl heute aussehen? Erschöpft? Am Boden zerstört? Einsam? Ihr
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