Der schlafende Engel
übel.
»Heißt das, ich bin auch ein Vampir?«
»Nein, Schatz, wir sind es entweder von Geburt an oder werden verwandelt. Aber das weißt du wohl inzwischen.«
»Wage es nicht, mit mir zu reden, als wäre alles in bester Ordnung! Mein ganzes Leben lang hast du mich belogen!«, schrie April.
»Aber doch nur, um dich zu beschützen, April. Ich wollte, dass du in Sicherheit bist.«
April zog ihren Ärmel hoch und streckte ihren Arm mit der deutlich sichtbaren Narbe aus. »Das nennst du Sicherheit? Ich wurde verprügelt, gewürgt und beinahe in Stücke gerissen. Ist das deine Vorstellung davon, mich zu beschützen?«
»Ich konnte schließlich nicht immer zur Stelle sein«, erwiderte Silvia trotzig.
»Ach ja, deine Dates, die hatte ich ja völlig vergessen.«
Wut flackerte auf Silvias Zügen auf – dieselbe Gereiztheit und Kampflust, die sie ihr ganzes Leben an ihrer Mutter bemerkt hatte. Silvia war aufbrausend, kompromisslos und jähzornig. Aber das waren nicht nur unangenehme, aber harmlose Charaktereigenschaften. Silvia drohte pausenlos die Sicherung durchzubrennen, weil sie ein Vampir war. April hatte ihr ganzes Leben neben einem Geschöpf gelebt, das als Vampir zur Welt gekommen war.
»Wusste Dad Bescheid?«, fragte sie, schüttelte jedoch den Kopf, als ihr bewusst wurde, wie dämlich diese Frage war. Natürlich hatte ihr Vater Bescheid gewusst. Wie hätte er auch sonst mit ihr leben können? Erst in diesem Moment wurde April das volle Ausmaß ihrer Erkenntnis bewusst. Sie musste sich setzen. Ihr Gehirn fühlte sich an wie einer dieser bunten Kreise, die auf dem Bildschirm erscheinen, wenn der Hauptprozessor wegen Überlastung den Geist aufgibt. Verzweifelt versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Großer Gott …«, flüsterte sie. All die Schreiduelle, die Ausbrüche, Silvias »Kopfschmerzattacken«. Plötzlich sah April alles in einem völlig anderen Licht.
»Hast du von ihm getrunken?«, fragte sie.
»Natürlich«, antwortete Silvia sanft. »Er war ein guter Mann.«
April musste sich abwenden. Es war, als betrete man das Schlafzimmer der eigenen Eltern, während sie gerade Sex miteinander hatten.
»Ein guter Mann«, schnauzte sie sie an. »Wie konntest du ihm dann so etwas antun? Du hast ihm das Leben zur Hölle gemacht.«
Silvia nickte. »Ja, vermutlich habe ich das. Aber trotzdem schien er … Ich weiß, dass du es nicht verstehen kannst.« Sie ließ ihre Stimme verklingen.
Doch April verstand sehr wohl. Unvermittelt ergab alles einen Sinn. Silvia – aggressiv, fordernd, ständig drauf und dran, ihm an die Kehle zu gehen, niemals zufrieden. William Dunne hätte ebenso gut mit einem Alligator zusammenleben können. Trotzdem war er geblieben, der Fels in der Brandung in Aprils Leben; er hatte sie beide unterstützt, stets Frieden zwischen ihnen gestiftet. Er war derjenige gewesen, der die Kluft zwischen ihnen zu schließen vermochte. Er war immer da gewesen. Immer. Obwohl er gewusst hatte, wer sie war, was sie war.
»Er hat dich geliebt«, flüsterte April. »Gott, er muss dich wirklich geliebt haben.«
Silvia nickte.
»Ja, das hat er. In diesem Punkt konnte ich mir immer sicher sein. Ehrlich gesagt, war es das Einzige, dessen ich mir sicher sein konnte.«
April sah Tränen in ihren Augen glitzern, als sie sie ansah.
»Und ich habe ihn auch geliebt. Sehr sogar.«
»Aber wieso hast du dann …« April unterbrach sich. »Oh Gott«, stieß sie leise hervor. Denn plötzlich passte alles zusammen. Sie wusste es. Sie wusste, wer der Vampirkönig war … und wo sie ihn finden würde. Sie sah ihre Mutter an. Millionen Fragen brannten ihr unter den Nägeln, doch all das würde warten müssen. Denn jemand, den sie von Herzen liebte, brauchte dringend ihre Hilfe. April sprang auf. Sie hatte schon viel zu viel Zeit vertan.
»Wohin gehst du?«, fragte Silvia.
»Es ist nett, dass du mir alles erzählt hast, aber jetzt muss ich weg.«
»Jetzt?«
»Jetzt.«
Sie wandte sich um, verließ Silvias Zimmer und stürzte, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.
»April! Komm zurück«, rief Silvia, doch sie lief bereits aus dem Haus. Zur Schule. Zu Gabriel.
Neunundzwanzigstes Kapitel
R avenwood erhob sich stockdunkel vor April. Sie stand im Schatten der Bäume auf der anderen Straßenseite und schnappte nach Luft, weil sie den ganzen Weg von dem Haus am Pond Square gelaufen war, angetrieben von dem dringenden Bedürfnis, Gabriel zu suchen. Sie war sich sicher, dass sie ihn
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