Der schlafende Engel
Richtige, was sie in dieser Situation hatte tun können.
Sie hatte die Leiche umbetten lassen. Gemeinsam mit Mr Gordon hatte sie dafür gesorgt, dass William Dunnes sterbliche Überreste in einem nicht gekennzeichneten Grab direkt neben der offiziellen Familiengrabstätte bestattet worden waren.
Nur Silvia hatte über die wahre Existenz von Thomas Hamilton Bescheid gewusst und geahnt, wozu er fähig war. Und sie hätte ganz bestimmt nicht zugelassen, dass er sich Zugang zur Leiche seines verhassten Feindes verschaffte.
Wenn Thomas seine eigene Frau verbrennen und seinen Hunden zum Fraß vorwerfen konnte, war ihm alles zuzutrauen. Als Chessys Schergen die Tür zur Grabstätte aufgebrochen hatten, war Wills Sarg leer gewesen.
»Glaubst du, er hat Chessy dazu angestiftet?«, fragte April, als sie weitergingen.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Gabriel. »Sie hat doch zugegeben, dass sie Calvin an seinem Gartentor aufgehängt hat, oder? Ich bin ziemlich sicher, das war ein Versuch, beim König Eindruck zu schinden, ihn auf sich aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass sie dich für ihn beschützt hat. Vermutlich ging es bei der versuchten Grabplünderung einzig und allein um dich. Sie wollte, dass er ihr etwas schuldig ist.«
April lachte freudlos auf.
»Nach allem, was wir inzwischen wissen, hat sie wohl genau das Gegenteil damit bewirkt. Grandpa muss ausgeflippt sein – ein Dutzend Filmteams vor dem Haus war so ziemlich das Letzte, was er gebrauchen konnte, wo er drauf und dran war, sich gemeinsam mit dem Rat des Lichts in die Öffentlichkeit zu begeben.«
»Aber dafür kannst du dich jetzt gleich anständig von ihm verabschieden«, wandte Gabriel ein.
April blickte den Weg zum Grab hinauf – dort, wo ihr Dad begraben lag, wo er die ganze Zeit begraben gelegen hatte. Ja, sie war froh darüber. Und sie war froh, dass ihre Mutter es getan hatte – ehrlich gesagt, liebte sie sie sogar dafür.
Wieder drang Silvias Lachen zu ihnen.
»Es ist schön, dass alle so fröhlich sind«, fuhr Gabriel fort. »Eine Beerdigung sollte ein fröhliches Ereignis sein, finde ich. Eine Gelegenheit, das Leben zu feiern, das man gemeinsam führen konnte, und die Liebe.«
April musterte ihn neugierig. Natürlich waren seine Worte aufrichtig gemeint, aber es lag auch eine Traurigkeit darin. Sie drückte seinen Arm.
»Was ist los? Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete er, auch wenn das Lächeln seine Augen nicht ganz erreichte. »Mein Arm ist so gut wie neu.«
»Bitte, Gabe. Du kannst mir doch alles sagen, schon vergessen? Nach allem, was wir zusammen durchgestanden haben, schockt mich so schnell nichts mehr.«
»Es ist nur …« Er wandte den Blick ab und sah zu einem der Engel hinüber, der seinen Arm nach ihnen auszustrecken schien. »Die Träume. Sie haben nicht aufgehört.«
April versuchte, ihre Besorgnis hinter einem strahlenden Lächeln zu verbergen.
»Du kannst nicht erwarten, dass sie über Nacht einfach verschwinden, oder? Nicht nachdem sie dich jahrelang gequält haben.«
»Das stimmt, aber meine Angst ist immer noch da. Jetzt, wo dein Großvater für immer weg ist, werde ich nie erfahren, ob diese Dinge, die ich sehe, wahr sind oder nicht. Ob es Erinnerungen oder nur Träume sind.«
April blieb stehen und sah ihm ins Gesicht.
»Hör mir zu, Gabriel«, sagte sie mit fester Stimme. »Diese Träume sind Vergangenheit, völlig egal ob sie real sind oder nicht. Wichtig ist, was du jetzt tust und wer du jetzt bist, alles andere ist unwichtig.«
»Aber, April …«
»Kein Aber. Ich liebe dich, und wenn ich in den letzten Wochen und Monaten etwas gelernt habe, dann ist es, wie zerbrechlich das Leben ist und wie einfach es einem entrissen werden kann. Deshalb wünsche ich mir nur eins: Hier mit dir, meiner Familie und meinen Freunden sein zu dürfen. Lass uns versuchen, in der Gegenwart zu leben, okay?«
Gabriel strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Das Problem ist nur …«
»Dass du immer noch ein Vampir bist?«
Er lächelte traurig. »Ich wünschte, ich könnte dich küssen.«
April nickte. Dieses Thema hatte sie schon lange ansprechen wollen. In all diesen Monaten der Suche nach Gabriels Meister hatten sie sich stets an die Hoffnung geklammert, dass die Legenden wahr waren: Wenn Gabriel das Blut des Vampirs trank, der ihn verwandelt hatte, würde er von seinem Fluch befreit werden und zur Normalität zurückkehren können, was auch immer das für einen Ex-Vampir bedeuten mochte. Aber Gabriel hatte
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