Der schlafende Engel
überhaupt weiterzumachen.«
»Aber du warst nie hier, Mum«, sagte April. »Ich habe auch sehr gelitten. Ich habe dich gebraucht, aber du warst jeden Abend aus.«
Silvia drückte ihre Hand.
»Ich weiß, mein Schatz, aber … ich habe doch nur versucht, dich zu retten. Um dich zu beschützen, musste ich herausfinden, wer deinen Vater ermordet hat, und deshalb bin ich jeden Abend ausgegangen. Ich habe mit Sheldon geflirtet, um Informationen aus ihm herauszuholen, und dann habe ich mich auf die Jagd nach Vampiren gemacht – in Clubs und übelsten Spelunken –, um so viel wie möglich über seine Pläne in Erfahrung zu bringen.«
April runzelte die Stirn.
»Aber wieso hast du mich in dem Glauben gelassen, du hättest Dad betrogen? Wieso hast du zugelassen, dass ich dich hasse?«
»Mir war klar, dass du hier ausziehen musst, und, na ja, ich dachte, bei deinem Grandpa wärst du sicherer. Ich wusste zwar, dass er zu schrecklichen Dingen fähig ist, aber ich hätte keine Sekunde gedacht, dass er dir etwas antun würde. Noch dazu, wo Gabriel dich im Auge hatte.« Sie lächelte wehmütig. »Ein Riesenirrtum, was?«
»Mum, glaubst du … na ja … ich mag Gabriel wirklich gern und …«
Silvia lächelte. »Und …?«
April wurde rot. Obwohl Silvia gerade all die Geheimnisse lüftete und April alles erfuhr, was sie um jeden Preis hatte in Erfahrung bringen wollen, war ihr unwohl bei der Vorstellung, mit ihrer Mutter über ihren Freund zu reden. Irgendwie war so etwas gruselig. Aber in den vergangenen Stunden hatten sie über das Leben und den Tod gesprochen, über die Vergangenheit und die Zukunft, und sie fühlte sich Silvia näher als wahrscheinlich je in ihrem Leben. Weshalb konnte sie sich dann nicht überwinden, ihr diese eine Frage zu stellen? Jene Frage, die ihr mehr unter den Nägeln brannte als alle anderen?
»Na ja, Grandpa hat ja alles Mögliche mit Gabriels Kopf angestellt – Hypnose, Elektroschocks und allerlei Drogen. Glaubst du, er könnte ihn manipuliert haben, dass er mich mag?«
Silvia lachte.
»Ach, Schatz, das ist doch albern. Einen Vampir zum Töten abzurichten ist eine Sache, aber ihn dazu zu bringen, dass er jemanden liebt? Das wird nie passieren.«
Sie nahm Aprils Hand.
»Dieser Mann hat sein Leben für dich aufgegeben und ist in die Dunkelheit zurückgekehrt, weil du es von ihm verlangt hast. Nein, ich glaube nicht, dass das nur ein gemeiner Trick ist.«
Wieder blieb ihr Blick an Williams Foto hängen.
»Ich bin länger auf der Welt als die meisten anderen und habe dabei eine Menge gelernt. Eines davon ist, dass es wahre Liebe nur sehr selten gibt. Okay, wir hatten unsere Höhen und Tiefen, aber auch wenn es nicht danach aussah, waren dein Vater und ich ein perfektes Liebespaar. Ich habe mitbekommen, wie du Gabriel ansiehst, und weiß, was er beim Winterball für dich getan hat. Zweifle niemals daran, und halt es so fest, wie du nur kannst.«
April schlang die Arme um Silvia. »Ich hab dich lieb, Mum«, sagte sie. »Ehrlich.«
Silvia warf lachend ihren Kopf zurück.
»Schätzchen, daran hatte ich niemals auch nur den kleinsten Zweifel.«
Zweiunddreißigstes Kapitel
D er Friedhof war ein einziges Blumenmeer. Endlich , dachte April. Der Weg zum Grab der Vladescus war ihr stets düster und bedrückend vorgekommen, die Statuen und dunklen Schatten bedrohlich und falsch, doch heute lag der Duft nach frischen Blumen in der Luft. Leuchtend gelbe Schlüsselblumen, lila und rote Prunellen. Es war, als herrsche Frühling und Sommer zugleich. Wie passend, dass ausgerechnet ihr Dad ihr die Namen all der Wildblumen beigebracht hatte. April drückte Gabriels Hand und lächelte ihn an. »Ich glaube, er sieht uns zu«, sagte sie. »Ich kann ihn spüren, und ich glaube, er freut sich, dass wir gekommen sind.«
Gabriel wandte sich um, als Gelächter hinter ihnen ertönte. Silvia folgte ihnen, Arm in Arm mit Davina. Beide lachten mit Fiona, die aus Schottland angereist war. »Anscheinend geht es uns allen so.«
April nickte. »Meine Mum und Davina sind seit ein paar Tagen ein Herz und eine Seele. Wüsste ich es nicht besser, würde ich glatt sagen, sie hecken irgendetwas aus.«
»Also, nach dem, was deine Mum mit dem Grab deines Vaters eingefädelt hat, traue ich ihr alles zu.«
Anfangs war April zugegebenermaßen stocksauer auf ihre Mutter gewesen. Aber als sie sich ein wenig beruhigt hatte, war ihr aufgegangen, wie klug Silvias Entscheidung in Wahrheit gewesen war. Es war das einzig
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