Der schlafende Engel
gehört, in den Verliesen des Tower seien Drachen eingesperrt. Ab und zu treffen sie ins Schwarze, das ist eine reine Frage des Gesetzes der Serie.«
»Sie wussten es also?«, fragte April mit weit aufgerissenen Augen.
Jessica schüttelte den Kopf.
»Nein, absolut nicht. Ich dachte mir zwar, dass Robert Sheldon noch andere Ziele verfolgt, die nichts mit Ravenwood zu tun haben, aber ansonsten hatte ich keine Ahnung, was mit dir passieren würde, April. Genauso wenig wie mit der armen Annabel Holden.«
»Aber wenn Sie wussten, dass mit Mr Sheldon irgendetwas nicht stimmte, wieso haben Sie dann nichts gesagt?«
Jessica nahm einen Umschlag und schlitzte ihn mit einem goldenen Brieföffner auf.
»Ich kenne – besser gesagt, kannte – Robert Sheldon viele, viele Jahre. Er war schon immer ein hinterhältiger Intrigant, der andere manipuliert und etwas im Schilde geführt hat, aber offen gestanden konnte ich mir nicht vorstellen, dass er gefährlich ist. Oder gefährlicher als die anderen. Aber offenbar habe ich mich in ihm geirrt.
»Hat Isabelle Ihnen von Mr Sheldon erzählt?«
»Isabelle?« Jessica sah auf.
»Isabelle Davis. Sie war auch in Ravenwood, oder? Außerdem dachte ich, sie hätte hier gearbeitet.«
Jessica lachte leise.
»Seltsam, wie sich die Geschichte immer wiederholt. Nein, Isabelle hat nicht hier gearbeitet, aber sie hat mich oft besucht. Genauer gesagt kam sie, um mich nach dem Weißen Buch zu fragen, so wie du.«
April schnappte nach Luft.
»Und was haben Sie ihr gesagt? Haben Sie sie auch in die Bibliothek geschickt?«
»Nein.« Jessicas Miene wurde ernst. »Isabelle war nicht wie du. Ich habe zu ihr gesagt, dass ich ihr nicht helfen kann und sie allein zurechtkommen muss.«
»Wieso haben Sie mir geholfen und ihr nicht?«
»Weil du jemand anderem helfen wolltest. Du warst bereit, ein hohes Risiko einzugehen, um jemanden zu retten, der dir viel bedeutet. Ich fand, dass so etwas belohnt werden sollte. Und …« Sie hielt inne. »Ich nehme an, dass das der Grund ist, weshalb du heute hier bist. Du willst über Gabriel reden, stimmt’s?«
»Bin ich so leicht zu durchschauen?«
Jessica lächelte.
»Er ist das Einzige, was wir gemeinsam haben, oder nicht?«
April starrte in ihre Tasse und betrachtete abwesend das ausgebleichte Bild der Fee auf dem Porzellan.
»Ich mache mir nur Sorgen um ihn«, sagte sie. »Er benimmt sich so komisch und …«
»Und du wolltest von mir hören, ob das normal ist oder nicht. Ob es nur bei Vampiren vorkommt oder ob sich alle Männer so benehmen?«
April starrte sie an. Konnte Jessica Gedanken lesen?
»Ich weiß«, sagte Jessica grinsend. »Manchmal gibt es praktisch keinen Unterschied, hab ich recht? Zwischen einem Psychokiller und einem dämlichen Dickschädel.«
Sie schob die Briefe ordentlich zusammen und strich den Stapel mit der Hand glatt.
»Männer sind Männer, April, völlig egal, ob sie Blut trinken oder nicht. All diese Zaubersprüche aus den Märchenbüchern …«, fuhr sie fort und schüttelte betrübt den Kopf. »Sie funktionieren nicht. Zumindest nicht bei Männern. Die Typen sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
Sie hob den Kopf. Ihre Blicke begegneten sich.
»Hat er wieder Blackouts?«
»Ja! Woher wissen Sie …«
»Das ist jetzt unwichtig. Wie groß ist das Zeitfenster, an das er sich nicht mehr erinnern kann?«
»Von dem Abend in Sheldons Haus ist nicht viel übrig. Zumindest nicht von dem Teil, bevor ich gekommen bin.« Plötzlich hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. »Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass er sich auch kaum noch an die Nacht erinnern kann, als Isabelle gestorben ist und als er mich gerettet hat.«
Jessica ließ den Brieföffner sinken und legte ihn bedächtig auf den Tisch.
»Das ist auch schon früher vorgekommen. Aber jetzt schon lange nicht mehr. Zumindest weiß ich nichts davon.«
Jessicas Miene verriet, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte.
»Was ist damals passiert? Als er die anderen Dinge vergessen hat?«, fragte sie.
Jessica antwortete nicht sofort.
»Damals sind Menschen gestorben, April.«
April versuchte, Luft zu holen, doch es gelang ihr nicht.
»Und, glauben Sie, dass Gabriel etwas damit zu tun hatte?«
»Okay, hör genau zu, April«, sagte Jessica und beugte sich vor. »Ich weiß, dass du Gabriel liebst, aber dir muss klar sein, wer er ist, besser gesagt, was er ist. Er ist ein Vampir; ein Wesen, das töten muss. Zumindest wurde er in einen
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