Der schlafende Engel
einen Lagerraum handeln. Vielleicht wohnte Jessica ja nicht einmal hier. In Wahrheit wusste sie so gut wie gar nichts über sie. Nein, das stimmte nicht. Sie wusste, dass Jessica Vampirin und von Gabriel verwandelt worden war. Und dass sie eine Art Hexe war, die etwas von geheimen Tränken verstand und sich mit unterirdischen Büchereien auskannte. Und dass Jessica verstehen würde, weshalb sie dringend den Vampirkönig ausfindig machen musste. Nur eines wusste sie nicht: wie Jessica reagieren würde, wenn sie sie um Viertel vor acht Uhr morgens aus dem Bett holte – sofern sie sich überhaupt in dem Haus aufhielt.
Vielleicht verwandelt sie mich ja in einen Frosch , dachte April und spähte an dem »Geschlossen«-Schild vorbei in den Verkaufsraum der Buchhandlung.
»April?«
Sie fuhr herum und sah Jessica mit einem Kaffeebecher in der einen und einer Supermarkttüte in der anderen Hand vor sich stehen. »Wir machen doch erst um zehn auf. Wusstest du das nicht?«, fragte sie mit dem Anflug eines Lächelns.
»Oh. Ah. Ja, aber ich dachte, Sie sind zu Hause.« Sie deutete auf die Fenster über ihnen. »Ich dachte, dass Sie vielleicht auch hier wohnen.«
»Das stimmt«, sagte Jessica und zog einen klimpernden Schlüsselbund aus der Tasche. »Ich habe mir nur etwas fürs Frühstück gekauft. Willst du mich wegen etwas Dringendem sprechen?«
Sie öffnete die Tür, und April folgte ihr hinein.
»Nein, eigentlich ist es nichts so Dringendes. Ich wollte nur …« Nun, da sie Jessica gegenüberstand, wusste sie plötzlich nicht recht, weshalb sie eigentlich hergekommen war. Vom Haus ihres Großvaters waren es nur fünf Minuten zu Fuß zur Redfearne’s Buchhandlung. Wenn sie so versessen auf all die Antworten gewesen war, wieso hatte sie dann so lange gewartet?
Weil du Schiss hast, was du erfahren könntest, du dumme Nuss.
Schließlich war die bildschöne, souveräne Jessica die Inhaberin einer geheimnisvollen Buchhandlung mit Regalen voller Schädel und Werken über Magie und Okkultismus. Und sie wusste mehr über ihren Freund als April selbst – das genügte wohl, um sogar den selbstbewusstesten Teenager aus dem Konzept zu bringen.
Jessica musterte sie fragend.
»Na ja, ich wohne ja jetzt bei meinem Großvater, also direkt um die Ecke«, stammelte April. »Deshalb dachte ich, ich sehe einfach mal rein und sage Hallo.«
Jessica nickte, doch ihr Lächeln verriet, dass sie ihr kein Wort glaubte. Kein Mensch hämmerte um acht Uhr früh gegen die Haustür, wenn er nur ein bisschen plaudern wollte.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte sie mit einer Geste auf den rückwärtigen Teil des Ladens. »Setz dich doch an meinen Schreibtisch.«
Verlegen ließ sich April auf dem Bürostuhl nieder und umklammerte die Griffe ihrer Tasche auf ihrem Schoß, während sie im Geiste noch einmal durchging, was sie zu Jessica sagen würde, sobald sie aus dem Hinterzimmer zurückkam. Was sollte sie ihr sagen? »Sie kennen sich doch mit Vampiren gut aus, Jessica. Können Sie mir die Adresse des Königs geben?« oder »Haben Sie zufällig eine Ahnung, wieso sich mein Freund so komisch benimmt?« Wie verhielt man sich in Jessicas Kreisen? Konnte man ohne Vorwarnung bei der Ex des eigenen Freundes auftauchen und sie nach ihm ausfragen? April hatte nicht allzu viel Erfahrung auf diesem Gebiet, aber vermutlich gehörte sich so etwas nicht.
Jessica kam aus der Küche und reichte April einen Teebecher aus Porzellan mit einer Märchenfee, ehe sie sich hinter ihren Schreibtisch setzte, auf dem sich Briefe und Pakete türmten.
»Stört es dich, wenn ich nebenbei die Post aufmache? Das ist zwar todlangweilig, aber die Rechnungen müssen nun mal bezahlt werden.«
April sah zu, wie sie Umschläge aufriss und die Inhalte der Pakete – erwartungsgemäß hauptsächlich mit Büchern – in Stapel sortierte.
»Wie geht es dir so?«
»Wie es mir geht?«
»Nach dem Brand, meine ich«, sagte Jessica mit einem Nicken Richtung Laden. »Meine Kunden sorgen schon dafür, dass ich alles erfahre, was auch nur ansatzweise ungewöhnlich ist. Ich hätte mir die Ohren zuhalten müssen, um es nicht mitzubekommen.« Sie pustete in ihren Tee. »Und sie haben teilweise reichlich absurde Theorien darüber, was vorgefallen ist.«
»Tatsächlich?«
»Die wildeste war, du wärst in einem Krieg zwischen verfeindeten Vampirclans zwischen die Fronten geraten.«
April verschluckte sich beinahe an ihrem Tee. Jessica lachte.
»Keine Sorge, letzte Woche habe ich
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