Der schlafende Engel
verwandelt, und wenn die Gier kommt und er um jeden Preis Nahrung braucht, solltest du ihm besser nicht in die Quere kommen.«
April spürte, wie sie kreidebleich wurde. Sie hatte Angst um Gabriel und vor dem, was er durchmachte, aber wenn sie ehrlich war, auch ein wenig um sich selbst. War Gabriel tatsächlich ein Killer? War er außer Rand und Band, so wie Marcus es gewesen war? Oder wie Benjamin? Sie hatte ihre Verwandlung aus nächster Nähe erlebt und war nicht sicher, ob sie es ertragen könnte, wenn Gabriel vor ihren Augen zu so einem Monster werden würde.
Sie zuckte zusammen, als sie Jessicas Finger auf ihrem Handrücken spürte.
»Hey«, sagte die Frau und ging neben April in die Hocke. »Gabriel ist einer von den Guten, schon vergessen? Und du auch – du hättest dich doch niemals in jemanden verliebt, der schlecht ist, oder? Trotzdem ist er ein Vampir, und du hast bestimmt inzwischen genug erlebt, um zu wissen, was er durchmacht.«
April nickte. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie mühelos die Erinnerung an jenen Morgen auf dem Primrose Hill heraufbeschwören, als sie auf der Bank gesessen, er den Drachenhauch getrunken und sich in einen Vampir zurückverwandelt hatte: Seine Augen waren blutunterlaufene Schlitze gewesen, seine Zähne gebleckt wie bei einem tollwütigen Hund. In diesem Moment hatte er nichts Menschliches mehr an sich gehabt, war nicht mehr der Gabriel gewesen, den sie kannte. Und gleichzeitig aber irgendwie doch. Tief im Innern war er immer noch der Mann gewesen, den sie liebte.
»Jessica, bitte, was passiert mit ihm?«
»Ich wünschte, ich könnte die Frage beantworten, April. Ich weiß nur, dass er immer dann diese Blackouts hat, wenn die Dunkelheit größer wird und die Vampire wieder auf dem Vormarsch sind. Es könnte auch ein Zufall sein, aber vermutlich wird dir nichts anderes übrig bleiben, als es herauszufinden.«
»Aber Sie machen sich auch Sorgen, hab ich recht?«
»Ja, das tue ich. Nicht um seine äußere Hülle. In puncto Stärke steht er ihnen in nichts nach.« Sie lächelte traurig. »Nein, ich bin vielmehr wegen seines Gemütszustands besorgt. Ich kenne ihn schon sehr lange, April. Er ist zu sensibel, emotional zu zerbrechlich. Mag sein, dass er sich nicht erinnert, aber er hat eine Vermutung, was er getan haben könnte, und ich glaube, das frisst ihn innerlich auf. Vielleicht zieht er sich deshalb ab und zu von dir zurück. Er hat Angst vor dem, was er ist.«
April wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, doch sie durfte jetzt nicht weinen. Gabriel war derjenige, der litt und ihre Unterstützung brauchte.
»Können wir ihm denn nicht helfen? Wenn all das auch schon früher passiert ist, müssen Sie doch wissen, was zu tun ist.« Sie hasste sich für die Verzweiflung in ihrer Stimme, aber sie konnte es nun mal nicht ändern. Sie würde alles tun, um ihm zu helfen, absolut alles.
»Man muss die Hilfe auch wollen, April«, sagte Jessica. »Gabriel ist zu stolz dafür. Das war schon immer sein Problem. Er bildet sich ein, alles allein schaffen zu müssen, der typische einsame Wolf.«
Sie lächelte.
»So sind Männer nun mal. Lieber landen sie im Meer, als nach dem Weg zu fragen. Aber dasselbe gilt auch für dich.«
»Für mich?«
»Genau, denn du wirst all das auch nicht ganz allein schaffen«, erklärte Jessica. »Ja, es stimmt, du bist die Furie, und, ja, das ist bestimmt eine sehr schwere Last, aber denk daran, dass du nicht allein bist. Du hast Menschen, mit denen du reden kannst, und Freunde, denen du vertrauen kannst, also tu es auch. Dafür sind sie schließlich da.«
April sah sie an. »Wieso habe ich das Gefühl, dass gleich noch ein ›Aber‹ kommt?«
»Aber wähle deine Freunde mit Bedacht. In dir schlummert etwas unglaublich Mächtiges. Das solltest du nicht unterschätzen, denn viele würden etwas darum geben, deine Gabe kontrollieren zu können. Stelle jeden infrage, der dir begegnet, und überlege dir, welche Motive andere haben könnten, sogar ich.«
»Sie? Aber ich bin doch zu Ihnen gekommen. Und wofür könnten Sie die Furie schon einspannen wollen?«
»Alle Menschen lieben die Macht, ob bewusst oder unbewusst. Deshalb habe ich Isabelle auch nichts von dem Weißen Buch gesagt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Im Gegensatz zu dir wollte Isabelle das Liber Albus nicht für jemand anderen, sondern für sich selbst.«
Plötzlich war ihr klar, weshalb Benjamin in jener Nacht in Ravenwood unbedingt den Drachenhauch hatte haben wollen und
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