Der schlafende Engel
April mit einem Blick zur Tür.
»Dann wollen wir hoffen, dass du nicht bald meine Zunge geschickt bekommst«, gab Jessica mit einem grimmigen Lächeln zurück.
Neuntes Kapitel
A pril kämpfte gegen den Schlaf an. Der Unterricht war sterbenslangweilig – irgendetwas über metaphysische Gedichte und ihre Rolle in der … keine Ahnung, worin. Erschwerend kam hinzu, dass Amy Philips das Referat hielt. Amy war die schlimmste Besserwisserin der ganzen Schule – und für diesen Posten gab es weiß Gott mehr als genug Kandidaten.
»Andrew Marvells Gedicht An seine spröde Geliebte spielt auf beinahe selbstbewusste Art und Weise auf die Tradition der Poesie an«, schwadronierte Amy, die ihren Auftritt vor der Klasse sichtlich genoss. »Doch in Wahrheit handelte es sich um einen gänzlich neuen Ansatz in der Lyrik, bei dem die Freiheit des Ausdrucks im Vordergrund stand.«
»Gott, ist das öde«, flüsterte Caro. »Ich hätte nie gedacht, dass jemand Tames Idee, den Schülern das Zepter in die Hand zu geben, so ernst nehmen würde.«
April kicherte unterdrückt und kassierte prompt einen vernichtenden Blick von Amy. April hatte in dieser Woche bereits drei von Schülern gehaltene Stunden hinter sich gebracht. Grundsätzlich hatte sie nichts dagegen, ein Thema kontrovers zu diskutieren, doch Tames Neuerung brachte ein Problem mit sich: Diejenigen, die sich vor die Klasse stellten und endlos über ein Thema referieren wollten, waren die schlimmsten Streber der ganzen Schule. Erst wenn man gezwungen war, jemandem wie Amy Philips zuhören zu müssen, wurde einem bewusst, wie schwierig es war, ein so trockenes Thema wie Poesie halbwegs interessant zu vermitteln.
Doch die neue Unterrichtsmethode war nicht die einzige beunruhigende Veränderung in Ravenwood: Beinahe täglich sah man Männer in weißen Kittel zu den Laboren der »Sonderprojekte« im Keller des Schulgebäudes marschieren, außerdem tauchte ständig neues Personal auf den Gängen auf.
April schlug eine neue Seite auf ihrem Block auf und schrieb:
Was läuft denn da im Keller?
Caro war zu einem »Sondervortrag« über die biologische Weiterentwicklung oder etwas ähnlich Ominösem eingeladen worden, worüber sie völlig aus dem Häuschen gewesen war – nicht unbedingt wegen des Themas, sondern weil Simon ein absolutes Ass in Bio war. Folglich würde er ebenfalls daran teilnehmen, und sie konnten nebeneinander sitzen, so wie früher, bevor Ling und die Blutsauger ihn sich gekrallt hatten. Caro nahm Aprils Stift und schrieb:
Molekularmodelle, irgendein merkwürdiges Zeug mit Hypnose- TV und massenhaft »praxisorientierte« Wissenschaft.
Sie zeichnete einen Pfeil neben das Wort »praxisorientierte« und schrieb:
Im Klartext: Geld für RW
April nahm den Stift.
Und was ist mit Simon?
Mit einem verschmitzten Lächeln malte sie ein Herz neben seinen Namen. Caro riss ihr den Stift aus der Hand und strich es durch.
Kannst du komplett vergessen. Es ist, als wäre er einer Sekte beigetreten.
Mitfühlend drückte April Caros Hand. »Tut mir leid«, formte sie lautlos mit den Lippen.
Endlich läutete es. April stieß einen erleichterten Seufzer aus. Unter Amys strengem Blick verließen sie das Klassenzimmer, und Caro streckte ihr die Zunge heraus.
»Wie erwachsen von dir«, bemerkte Amy. »Kein Wunder, redet kein Mensch mehr mit dir, Caro Jackson.«
»Wie kommst du denn darauf? April redet doch mit mir.«
»Ja, schon, aber ihr seid ja auch zwei …«
»Wir sind was ?«
»Schräge Vögel.«
Caro brach in schallendes Gelächter aus.
» Du bezeichnest uns als schräge Vögel?«
Amy stemmte die Hände in die Hüften.
»Es wird allmählich Zeit, dass ihr erwachsen werdet und begreift, dass Charles Tame …«
»Oh, ihr seid also schon beim Du angelangt, ja?«, unterbrach Caro. »Hat er dir denn auch Individualunterricht angeboten?«
Amys bleiche Wangen färbten sich feuerrot, was April verriet, dass Caro ins Schwarze getroffen hatte: Das Mädchen schwärmte für den neuen Schulleiter. Wie jemand in Dr. Tame etwas anderes sehen konnte als einen abscheulichen Widerling, war ihr ein echtes Rätsel.
»Das liegt nur daran, dass ihr nicht begreift, wie wichtig seine Arbeit ist«, erklärte Amy schmollend. »Weil ihr keinerlei Fantasie habt.«
»Oh, ich weiß ganz genau, wie wichtig seine Arbeit ist, Amy«, widersprach Caro. »Und du bist hier diejenige, der es an Fantasie fehlt. Wie wär’s, wenn ich dir mal genau erkläre, was in Ravenwood vor sich
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