Der schlafende Engel
Sheldon versucht hatte, sie ausbluten zu lassen. Wer sowohl die Krankheit als auch das Heilmittel unter Kontrolle hatte, könnte willkürlich eine ganze Armee an Vampiren erschaffen – und jedes Vampirnest oder Clans zerstören, die versucht hätten, seine oder ihre Autorität zu untergraben. Wem dies gelang, wäre eine Art Supervampir, der über Leben und Tod sämtlicher Lebewesen entscheiden konnte.
»Also hat Isabelle … für die andere Seite gearbeitet?«
Ein ironisches Lächeln spielte um Jessicas Mundwinkel. »Ich weiß nicht, für wen sie gearbeitet hat oder ob das alles ihre Idee war, aber genau das meine ich. Macht kann das Schlechteste in den Menschen hervorbringen. Du fürchtest dich vor deiner Macht, und das ist sehr gut, weil du dir deine Entscheidungen gut überlegen und dich fragen wirst, ob du auch das Richtige tust. Bei Isabelle war die Antwort einfach – was am besten für sie war, musste das Richtige sein.«
April hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. So viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, und auf keine gab es eine einfache Antwort. April hatte immer gedacht, Isabelle sei so wie sie gewesen – jemand, der mit seiner Gabe haderte und sich auf der Suche nach Hinweisen durch die Finsternis hangelte. Aber vermutlich war es blanker Zufall, dass das Virus ausgerechnet in ihrem Blutkreislauf zirkulierte – schließlich suchte der Krebs auch nicht nur die schlimmen Menschen heim, sondern traf sehr viele anständige –, deshalb gab es keinen Grund, weshalb eine Furie nicht auch egoistische und eigennützige Ziele verfolgen sollte.
»Und was ist mit ihr passiert? War sie in irgendetwas verstrickt? Musste sie deshalb sterben?«, fragte April, während sie erneut ein mulmiges Gefühl überkam. »Hatte es etwas mit Gabriel zu tun? Immerhin war er in der Nacht, als sie gestorben ist, ganz in der Nähe, allerdings kann er sich offenbar nicht daran erinnern.«
Jessica schüttelte den Kopf.
»Lass dich nicht zu vorschnellen Schlüssen verleiten. Und bevor du fragst – nein, ich weiß nicht, was mit Isabelle passiert ist. Aber wenn Gabriel die Erinnerung an diese Nacht verdrängt und aus irgendeinem Grund in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses geschoben hat, lässt das ahnen, dass ihn ihr Tod in irgendeiner Weise traumatisiert hat. Genau weiß ich es allerdings nicht. Ich denke, du solltest mit ihm darüber reden. Wenn er sich jemandem öffnet, dann dir.«
»Danke, Jessica«, sagte April und stand auf. »Ich hatte schon Angst, ich müsste mir eine Standpauke anhören, weil ich Sie so überfallen habe.«
»Na ja, im Grunde hast du das ja auch. Wir können nicht länger so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Wenn man in der Dunkelheit gefangen ist, gibt es nur einen Weg – weitergehen. Das ist schwierig, aber es gibt kein Zurück mehr. Man kann den Geist nicht wieder in die Flasche sperren.«
April nickte und nahm ihre Tasche.
»Trotzdem möchte ich mich für die frühe Störung entschuldigen.«
Jessica zuckte mit den Achseln und deutete auf ihren Schreibtisch. »Das Einzige, wovon du mich abgehalten hast, ist meine Büroarbeit. A propos – ich sollte wohl lieber weitermachen.«
April musste die Augen zusammenkneifen, als sie die schmale lila Tür der Buchhandlung hinter sich schloss. Sie sah auf das Display ihres Telefons: Es war gerade einmal halb neun. Seufzend schlug sie den Weg zur U-Bahn ein. Eigentlich hatte sie keine Lust auf die Schule, aber Jessica hatte völlig recht: Sie musste weitermachen.
»April!«
Sie drehte sich um. Jessica stand im Türrahmen und winkte sie zu sich.
»Ich denke, das solltest du dir lieber mal ansehen«, sagte sie mit ernster Miene.
Jessica kehrte in den Laden zurück, schloss die Tür hinter ihnen ab und ging zu ihrem Schreibtisch, wo ein weißer gefütterter Umschlag lag.
»Was ist das?«
»Dreh ihn um.«
Ihr Tonfall verriet April, dass sie nicht sehen wollte, was sich in dem Umschlag befand. Vorsichtig hob sie ihn hoch und drehte ihn um.
»Iiiihhh!« Ein kleines, nasses Etwas fiel auf den Tisch. Es sah aus wie eine Nacktschnecke oder ein Stück Fleisch. »Was ist das?«
»Eine Zunge«, antwortete Jessica. »Jemand hat sie einem Tier herausgerissen und mir geschickt.«
»Oh Gott!« April wich einen Schritt zurück. »Aber wieso?«
»Das ist eine Nachricht an mich, April. Jemand will nicht, dass ich rede.«
»Mit mir? Die wollen nicht, dass Sie mit mir reden?«
»Vermutlich.«
»Aber dafür ist es zu spät«, sagte
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