Der schlafende Engel
zu bieten, nur war das Glück heute leider nicht auf ihrer Seite: Bei dem neuen Friseur in der Nähe des Pubs konnte man sie nicht kurzfristig dazwischenschieben, und in der Secondhand-Boutique gegenüber vom Americano wurde sie bei der Suche nach einem heruntergesetzten Partykleid ebenfalls nicht fündig. In den Frauenzeitschriften wurde ständig davon geschwärmt, welche Schnäppchen man in diesen Geschäften machen konnte, aber ihr war es bisher kein einziges Mal gelungen.
Was soll ich bloß anziehen ?, fragte sie sich. Eines stand fest: Ling und Chessy würden sämtliche Register ziehen und alle anderen ihr Outfit umso kritischer beäugen. Meine Güte, Schülerin in Ravenwood zu sein, war so was von anstrengend. Wenn man sich nicht gerade davor fürchtete, von einem Blutsauger angegriffen zu werden, musste man Angst haben, dass die anderen einen wegen der Schuhe auslachten, die man trug.
Als sie die High Street überquerte, sah sie eine vertraute Gestalt mit einem Stock und grauem, wild abstehendem Haar auf sich zukommen.
»Mr Gill!«
»Oh, April, meine Liebe«, begrüßte er sie mit einem freundlichen Lächeln. »Geht es dir gut?« Er runzelte die Stirn. »Ah, da fällt mir ein – du hattest doch schon wieder einen kleinen Unfall, stimmt’s?«
April lachte.
»Diesmal war es nichts allzu Schlimmes, Mr Gill, nur eine leichte Rauchvergiftung.«
Er deutete auf den Eingang seiner Buchhandlung. »Vielleicht könnte eine Tasse Tee ja die Heilung beschleunigen. Marjorie war gerade Kuchen holen. Bestimmt hat sie dieses widerliche Fertigzeug aus der Schachtel gekauft, aber trotzdem – sie hat das Herz am richtigen Fleck.«
»Marjorie? Aus der Bibliothek? Ihre Romanze dauert also immer noch an, ja?«
Mr Gill winkte sie zu sich heran.
»Sie blüht sogar regelrecht auf, wenn ich es richtig interpretiere«, erklärte er mit gesenkter Stimme. »Ganz im Vertrauen – es würde mich nicht wundern, wenn in absehbarer Zeit die Hochzeitsglocken läuten würden.«
»Mr Gill«, rief April erfreut. »Sie sind mir ja einer!«
Sie mochte den alten Herrn sehr gern und freute sich, ihn so lebhaft und aufgeweckt zu sehen. Bei ihrem ersten Besuch hier hatte der Besitzer genauso ausgesehen wie seine Bücher – verstaubt, ungeliebt und ohne große Erwartungen an das Leben. Doch nun trug er ein fröhlich gepunktetes Hemd unter seiner gewohnten Strickjacke. Allem Anschein nach ließ die Liebe nicht nur junge Menschen aufblühen.
Mr Gill hielt ihr die Tür auf. Staunend registrierte April, dass sich auch drinnen einiges getan hatte: Auf Mr Gills Schreibtisch stand ein nagelneuer, hochmoderner Com-puter.
»Mr Gill! Was ist denn hier passiert? Von Ihnen hätte ich als Letztes erwartet, dass Sie den Schritt ins Hightech-Zeitalter wagen.«
Die Wangen des alten Herrn röteten sich leicht. »Ich fürchte, das ist Marjories Einfluss zu verdanken. Sie ist ein ›Technikfreak‹ – ich glaube, so nennt man das. Jedenfalls war sie mit den Computern in der Schulbibliothek und all diesen anderen technischen Dingern, die es sonst noch gibt, auf Du und Du und hat darauf bestanden, dass ich mir auch einen zulege. Und ich muss zugeben, dieser Computer ist eine echte Offenbarung. Damit kann ich meinen gesamten Bestand katalogisieren. Außerdem haben so viele Bibliotheken eine eigene Internetseite. Man kann immer wieder nur staunen!«
April musste über seine jungenhafte Begeisterung grinsen.
»Marjorie!«, rief er, hängte seine Strickjacke an einen Haken und bedeutete April, auf einem der Stühle neben seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Wir haben Besuch.«
»Das ist kein Grund, so zu schreien, du alter Narr«, ertönte es aus dem hinteren Teil des Ladens. »Ich bin vielleicht senil, aber nicht taub.«
Sie erschien mit einem Teller voll Petit Fours in zarten Pastelltönen. »Sonderangebot«, erklärte sie befriedigt. »Drei zum Preis von einem. Das Haltbarkeitsdatum ist zwar überschritten, aber damit sind sie ja nicht die Einzigen hier.«
April war Mrs Townley während ihrer ersten Woche in Ravenwood begegnet. Mit ihren grauen Löckchen und der Halbbrille hatte die alte Dame ausgesehen, als müsste sie mindestens achtzig sein, und für sie schien ihre Romanze nicht derselbe Jungbrunnen zu sein wie für ihren Verehrer, denn sie sah immer noch genau gleich aus. Doch der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass sie die Allerschönste für ihn war.
»Ah, Sie sind doch die Kleine, die aus dem Feuer gerettet wurde, stimmt’s?«, meinte
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