Der schlafende Engel
Crippen und den anderen. Gehörte Jack the Ripper auch dazu? Fünf oder sechs Morde, keine Ahnung, und dann war plötzlich Schluss?«
Mr Gill lächelte.
»Was ist? Sie sehen aus, als hätten Sie erwartet, dass ich genau das frage. Wieso?«
»Ach, ich hatte nur so eine Ahnung, mein Kind.« Er musterte sie neugierig, und April hatte das Gefühl, als wollte er etwas sagen.
»Was ist?«, fragte sie.
»Wenn du mehr über unseren alten Freund Jack herausfinden willst, solltest du besser gleich zu jemandem gehen, der über Informationen aus erster Hand verfügt. Jemand mit persönlichen Erfahrungen.«
»Und wer wäre das?«
»Ich glaube, du kennst sie bereits. Ihr gehört dieser Laden.«
Er beugte sich vor und drehte den Bildschirm so hin, dass April ihn erkennen konnte.
Sie riss die Augen auf, als sie das Bild erkannte: Redfearne’s Books – Jessicas Buchhandlung.
Fünfzehntes Kapitel
C aro sah hammermäßig aus. Obwohl April klar war, dass sie eigentlich nicht überrascht sein sollte, blieb ihr der Mund offen stehen: Die meiste Zeit verschanzte Caro sich hinter einer dicken Schicht Schminke, grellen Haarfarben und einer gehörigen Portion aufsässiger Großmäuligkeit, doch unter dieser Fassade schlummerte ein bildhübsches Mädchen mit ausgeprägten Wangenknochen und sexy Kurven – heute Abend betont durch ein schwarzes, eng anliegendes Kleid. Mit ihren ausnahmsweise in ihrem kastanienbraunen Naturton belassenen, glatt geföhnten Wellen sah sie beinahe wie ein Supermodel aus.
»Neben dir komme ich mir wie der letzte Loser vor«, erklärte April, als sie den Weg zu Lings Haus hinaufgingen. April fühlte sich ein wenig nackt in dem tief ausgeschnittenen lila Kleid, das Caro aus dem Kleiderschrank ihrer Cousine »geliehen« hatte, und hatte Mühe, auf ihren mörderischen Highheels das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das Outfit schmeichelte zwar ihrer Figur, trotzdem war es so kurz, dass sie sich wie auf dem Präsentierteller vorkam.
»Hör auf, ständig daran herumzuzupfen«, mahnte Caro. »Jetzt trägst du es, also zeig auch, was du zu bieten hast. Außerdem – ist Mr Lover Lover heute Abend nicht auch eingeladen?«
»Soweit ich weiß, wird Gabriel den Feierlichkeiten ebenfalls beiwohnen«, gab April sittsam zurück, konnte sich ein Grinsen allerdings nicht verkneifen.
»Tja, wenn der dich so sieht, werden wir wohl seine Zunge vom Fußboden abkratzen müssen.«
»Iiihh!« April musste wieder an die Zunge denken, die aus dem Umschlag auf Jessicas Schreibtisch geflutscht war. Nach ihrem Besuch bei Mr Gill war April auf direktem Weg zu Redfearne’s Buchhandlung gefahren, hatte jedoch mit einer Mischung aus Enttäuschung und Besorgnis festgestellt, dass der Laden geschlossen und sämtliche Lichter gelöscht gewesen waren. Sehr seltsam, zumal man erwarten würde, dass an den Wochenenden in einer Buchhandlung Hochkonjunktur herrschte. April verdrängte den Gedanken, als Caro an der Tür läutete. Sie warteten, doch niemand machte auf. Caro hob die Brauen. »Aber die Party sollte doch heute stattfinden, oder?«
April verdrehte die Augen.
» Natürlich , Caro. Die Fete ist doch seit Wochen Thema Nummer eins.«
Caro wollte etwas erwidern, als ihr etwas einzufallen schien.
»Ah, ich glaube, wir sollten den Dienstboteneingang nehmen«, sagte sie mit einem ironischen Lächeln.
Sie ging vor April her den schmalen Weg um das Haus herum, während die Musik immer lauter wurde und ihnen Stimmengewirr und Gelächter entgegenwehten. Als sie auf die Terrasse traten, blieb April die Luft weg.
»Na, das nenne ich mal eine Grillparty«, erklärte Caro und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
Mehrere in Rot- und Goldtönen gehaltene Zelte im marokkanischen Stil mit behaglich aussehenden Liegestühlen und kleinen Beistelltischen mit Tabletts voller Lokum waren um einen riesigen Pool arrangiert, während Kellner in Haremshosen und Turbanen mit nackter Brust den auffallend attraktiven Gästen Drinks servierten. Das Ganze sah mehr nach dem Set eines Hip-Hop-Videos als nach einer Party in Highgate aus.
»Heiliger Strohsack, sieh sie dir bloß an«, raunte Caro.
April folgte ihrem Blick zum hinteren Ende der Terrasse, wo Ling inmitten eines Grüppchens Bewunderer Hof hielt.
»Sie hat sich definitiv ans Motto gehalten.«
Ling hatte sich als Flaschengeist verkleidet. Sie trug eine lange Haremshose mit goldfarbenen Manschetten an den Knöcheln, ein Top mit geschlitztem Rückenteil und einen Kopfschmuck mit einem langen
Weitere Kostenlose Bücher