Der schlafende Engel
seine Computer-Maus, woraufhin der Bildschirm zum Leben erwachte.
»Wie du dir bestimmt denken kannst, beschäftigt mich dieses Thema in letzter Zeit ziemlich oft, deshalb habe ich mich in die Materie eingelesen.«
Er rief eine Webseite auf und klickte sich zu einem Foto eines unheimlich aussehenden Schlosses inmitten eines Waldes durch.
»Das hier ist der erste Bericht über einen Vampir oder Strigon, wie die Einheimischen die Hexenmeister bezeichnen, aus dem Jahr 1656. Ein armer Teufel namens Jure Grando lebte in Kringa, einem kleinen kroatischen Dorf, und versetzte nach seinem Tod offenbar die Dorfbewohner noch sechzehn Jahre lang in Angst und Schrecken«.
April begann zu lesen:
Eines Nachts begab sich eine Gruppe tapferer Männer, angeführt von Vater Giorgio, auf den Dorffriedhof, um im Schein der Laternen den Sarg von Jure Grando auszugraben. Darin fanden sie einen scheinbar unberührten Leichnam, was besonders ungewöhnlich war, da er bereits sechzehn Jahre zuvor begraben worden war. Vater Giorgio versuchte, dem Toten einen Weißdornstock durchs Herz zu rammen, doch es gelang ihm nicht, das Fleisch des Toten zu durchbohren. Da zückte ein anderer Dorfbewohner seine Säge und machte sich daran, den Leichnam zu enthaupten, woraufhin dieser laut zu schreien begann, während sein Blut aus seinen Adern floss und den Sarg bis zum Rand füllte.
April zog die Nase kraus. »Ziemlich grausig. Glauben Sie wirklich, dass das passiert ist, Mr Gill?«
»Oh, zweifellos war der Aberglaube in dieser Region sehr verbreitet und ist es bis zu einem gewissen Grad heute noch. Natürlich gibt es eine Menge Theorien, ob es sich bei diesem armen Kerl tatsächlich um einen Vampir gehandelt hat oder nicht. Manche halten den Vampirismus lediglich für eine Erscheinungsform unterschiedlicher Erkrankungen, andere wiederum vertreten die Ansicht, sogenannte Vampire seien lediglich Opfer einer ausgeprägten Psychose.«
»Aber Sie nicht.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass in dieser Theorie ein Fünkchen Wahrheit steckt, allerdings ist das Problem, dass das Phänomen in unregelmäßigen Abständen aufs Neue auftaucht. In der Vergangenheit kam es immer wieder zu einer Reihe von Morden oder unerklärlichen Todesfällen, die genauso unvermittelt wieder aufhörten, wie sie begonnen hatten. Ich denke da an Dr. Crippen, die Brides-in-the-Bath-Morde oder den Yorkshire Ripper.«
»Sie glauben also, dass sie alle Vampire waren?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber ganz normale Menschen können ohne Weiteres in ihren Bann geraten, wie du inzwischen selbst herausgefunden hast. Doch im Gegensatz zu den heutigen Vorfällen hat das Morden in der Vergangenheit nach einer Weile einfach wieder aufgehört. Diesmal sieht es nicht danach aus. Und angesichts der politischen Verstrickungen haben wir es hier mit einem echten Pulverfass zu tun.«
»Politische Verstrickungen? Sie sprechen von der Regierung?«
»Nein, ich meine die interne Politik«, erklärte Mr Gill. »Rivalitäten zwischen einzelnen Lagern, von denen jedes die Herrschaft über die anderen an sich reißen will.«
April sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Sie meinen, es gibt mehrere Lager? Drei oder vier Vampirarmeen, die da draußen herumlaufen?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Nein, und genau das ist ja das Beängstigende daran, April. In der Vergangenheit haben sich vereinzelte Nester bekämpft wie bei einem Bandenkrieg, was wie ein Überdruckventil gewirkt hat. Ein Anführer hat zum Angriff geblasen, und die anderen haben sich blindlings auf ihn gestürzt und ihn zurückgedrängt. Aber jetzt hat es den Anschein, als wäre es jemandem gelungen, die Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel zu vereinen: die Macht endgültig an sich zu reißen. Und wenn niemand etwas dagegen unternimmt, werden sie es diesmal auch tun.«
Wieder zog April einen eigentümlichen Trost aus den Worten des Buchhändlers, denn er bestätigte nur, was sie ohnehin bereits wusste: Dass der König der Vampire einen grauenhaften Anschlag auf die Menschheit plante. Ist das alles ?, fragte sie sich sarkastisch. Aus irgendeinem Grund erschien ihr diese Aussicht weniger beängstigend, als erfahren zu müssen, dass sie von Dutzenden weiteren Vampirarmeen umgeben waren. Auf diese Weise gab es zumindest nur einen, den es zu bekämpfen galt. In diesem Moment fiel ihr etwas ein, was Miss Holden vor einer scheinbaren Ewigkeit zu ihr gesagt hatte.
»Sie sprachen doch gerade von diesen Mördern – Dr.
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