Der schlafende Engel
Schließlich war das nichts Neues – Silvia hatte die Affäre praktisch zugegeben, aber dies war das erste Mal, dass April sich bildlich vorstellte, was hinter ihrem Rücken vorgegangen war – und vor allem hinter dem Rücken ihres Vaters. Wie hatte Silvia nur so etwas tun können? April war fassungslos vor Entsetzen und Ekel. Erst nach einer Weile registrierte sie, dass Davina weinte.
»Was ist denn mit dir, Vina?«, rief April erschrocken. Davina Osbourne, die Eiskönigin, weinte? Sie streckte die Hand aus und streichelte Davinas Handrücken. »Was ist denn los?«
Schluchzend wischte Davina sich mit dem Ärmel die Nase ab – aus irgendeinem Grund war diese Geste noch bestürzender als ihre Tränen. Die alte Davina hätte so etwas nie im Leben getan.
»Ich … ich musste nur an diesen elenden Mistkerl Sheldon denken und daran, was er mir angetan hat.«
Was Sheldon ihr angetan hatte. Das hörte sich schon eher nach Miss Osbourne an. Wie hatte sie vergessen können, dass sich in Davinas Welt immer alles nur um Davina drehte.
»Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll«, schniefte Davina und sah April flehend an. »Ich weiß, dass es arrogant klingt, aber ich war immer diejenige, zu der die Leute aufgeblickt haben und die gesagt hat, wo es langgeht, und zwar in jeder Hinsicht – ob bei Klamotten, den angesagten Clubs, der Frage, wer in und wer out ist. Und jetzt bin ich auf einmal diejenige, die out ist.«
April versuchte, sich in Davinas Lage zu versetzen. Ihrem Empfinden nach war sie wegen etwas, was ihr Bruder zu verantworten hatte, unfairerweise ins Aus katapultiert worden. In Wahrheit war sie das Opfer des natürlichen Laufs der Dinge geworden: Niemand konnte immer nur oben sein. Herrschaft über andere war kein Dauerzustand, sondern ein fließender Prozess, und Davina Osbourne hatte lange genug den Platz an der Sonne genießen dürfen. Außerdem war sie nicht gerade sanft mit ihren Untertanen umgesprungen. Daher fiel es April schwer, Mitgefühl mit ihr zu haben, noch dazu, wo dieses schniefende Mädchen auf der Bank neben ihr mehrere Morde angeordnet – oder gar selbst ausgeführt – haben könnte.
»Ich bin sicher, du findest bald neue Freunde«, sagte April.
»Du hast leicht reden. Du hast echte Freunde. Leute, die immer hinter dir stehen, dich nie im Stich lassen. Ich wünschte, ich hätte so etwas auch.«
April fragte sich, was sie damit andeuten wollte. War das eine verdeckte Frage, ob sie auf ihre Seite wechseln konnte? Könnte es vielleicht funktionieren? Es mochte verrückt klingen, aber Davina verfügte über intimste Kenntnisse über die Strukturen der Vampire, noch mehr als Gabriel, vor allem, wenn das stimmte, was sie über Robert Sheldon sagte. Außerdem hegte sie einen tiefen Groll gegen die anderen und hatte das dringende Bedürfnis, sich bei Chessy und den anderen Schlangen für deren Verrat zu rächen. Das machte sie zu einer tödlichen Verbündeten.
Trotzdem durfte April nicht vergessen, mit wem sie es zu tun hatte. Die Schlangen waren keine gewöhnliche Horde zickiger Miststücke, die anderen gern das Leben zur Hölle machten, sondern die Vorhut einer Revolution durch die Vampire. Sie waren schlau, gerissen, skrupellos und mordlustig. Möglicherweise war Davina inzwischen aufrichtig zu ihr, vielleicht litt sie einfach nur unter der Situation, trotzdem konnte man ihr nach wie vor nicht über den Weg trauen.
»Und was willst du wegen Chessy und Ling unternehmen?«
Davina schnaubte.
»Was glaubst du denn? Durch mich sind diese Miststücke erst zu dem geworden, was sie heute sind. Und deshalb kann ich das ganz schnell auch wieder ändern.«
April fiel auf, dass Davina ihre Nägel in die Oberfläche des Tisches grub und tiefe Scharten im Holz hinterließ.
»Chessy? Sie war ein Nichts. Bis ich sie aus der Gosse geholt habe – ein Niemand! Ich habe sie unten am Kanal gefunden, wo sie auf einem alten Kutter gehaust hat, wusstest du das? Sie war wie ein Tier. Aber ich hatte Mitleid mit ihr und habe den Falken überredet, sie in Ravenwood aufzunehmen, um sie vor den Ratten zu bewahren. Doch erinnert sie sich heute noch daran? Einen Teufel tut sie. Vielleicht werde ich ihrem Gedächtnis demnächst einmal auf die Sprünge helfen.«
»Wenn du das tust, sag vorher Bescheid, damit ich auf keinen Fall in der Nähe bin«, warf April ein.
Davina lachte.
»Danke, April«, sagte sie seufzend. »Es bedeutet mir viel, dass sich nicht jeder wie eine beschissene Kuh mir gegenüber
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