Der schlaue Pate
Telekom AG , »von der ich auch noch nie gehört habe«. Dem Pressesprecher dieser Firma log Desirée vor, sie schreibe an einem Krimi, und erfuhr, der höchste Sendemast, der auch Baginskis Haus zugewandt war, sei achtundsechzig Meter hoch, und die Techniker würden an Steigleitern hinaufklettern, mit Seilen und Gurten gesichert, außerdem behelmt, und bei dieser Höhe dürfe niemand allein hochsteigen.
Um Letzteres scherten Ollie und Jörg sich nicht. Die Steigleitern waren an dem Turm fest angebracht, in mehreren Metern Höhe war eine Plattform, in etwa gleichem Abstand folgte eine zweite, ganz oben ein Gewirr von Stangen und Schüsseln. Jörg sicherte sich mit einem Gurt und stieg allein und ohne Helm nach oben. Er befestigte die Tag-und-Nachtsicht-Kamera in fast sechzig Metern Höhe über der zweiten Plattform, klemmte sie ans Stromnetz des Sendemasts und richtete sie auf Baginskis Haus. Als Ollie, der unten einen kleinen Monitor in der Hand hielt, mit dem Bild zufrieden war und festgestellt hatte, dass die Kamera sich bewegen ließ und der Zoom funktionierte, kletterte er wieder runter. Kein Mensch war in dem unbeleuchteten Park unterwegs, niemand hatte etwas bemerkt.
Am Sonntag blätterte Desirée beim Frühstück im Esszimmer des Herrenhauses von Gut Holdorf in einem regionalen Lifestyle-Magazin namens »Jérôme«. Der Titel war eine Anspielung auf Napoleons kleinen Bruder, der in Kassel einige Jahre als König von Westphalen residiert hatte, der Untertitel lautete: »Kassel und Kurhessen königlich erleben«, das Accent-Dächelchen über dem o war eine Krone.
»Letztes Frühjahr stand hier ein interessanter Artikel drin«, sagte sie. »›Der Mann, der Evita nicht retten konnte‹, von Klaus Becker.«
»Der ist doch schon im Herbst davor gestorben«, wandte Andreas ein. Sein Name hatte, wie auch der seines Vaters, mit einigen hundert anderen auf der ganzseitigen Todesanzeige gestanden, und er war auf der Trauerfeier im Löwenhof in Lohfelden gewesen, wo der Oberbürgermeister, ein langjähriger Lebensgefährte und der HNA -Chefredakteur bewegende Ansprachen gehalten hatten.
»Nachdem er nicht mehr Chefredakteur des EXTRA TIP war, hat er interessante stadtgeschichtliche Artikel für das Magazin geschrieben. Ein paar auch noch nach dem Schlaganfall im Krankenhaus. Unter diesem hier steht: ›Dies ist der letzte Artikel, den Klaus Becker vom Krankenbett aus dem Gedächtnis für Jérôme diktiert hat. Auf seinen Wunsch hat Volker Schnell den Text seines alten Freundes, Mentors und Kollegen etwas erweitert und poliert‹.«
»Unser Volker Schnell?«, fragte Ingrid aufgeregt. »Der das Buch über uns geschrieben hat?« Prinz betrachtete sie. Sie hatte diese romanhafte Fassung der Ereignisse vor anderthalb Jahren recht gut gefunden, während Prinz meinte, es sei doch viel hinzugedichtet, einiges weggelassen oder zusammengerafft worden.
Andreas erinnerte sich, auch den Namen des Autors auf der Todesanzeige und ihn bei der Trauerfeier gesehen zu haben.
»Ebender«, sagte Desirée und las Auszüge vor: »Am Anfang geht es um das Musical und Evita, die 1952 einem Leberkrebs erlag. Doch kaum jemand weiß, dass ihre letzte Hoffnung ein Spezialist aus Kassel war – Heinrich Otto Kalk, damals der renommierteste Leberexperte der Welt … Den weltweiten Ruf bei Leberpatienten, die selbst aus Amerika und Japan anreisen, verdankt das Klinikum dem Internisten und Hepatologen Heinrich Otto Kalk, von 1949 bis 1963 Chefarzt der Medizinischen Klinik … 1952 erreichte ihn ein Notruf der argentinischen Regierung, Kalk wurde in aller Eile nach Buenos Aires geflogen – ans Krankenbett der Frau des Präsidenten … Kalk war nach Aussage seines langjährigen Mitarbeiters und späteren Nachfolgers Egmont Wildhirt ein echter Tausendsassa … Vor dem Krieg, als Oberarzt an der Berliner Charité, raste er mit dem Motorrad Treppen hoch und runter. Mit seinen Berliner Assistenten suchte er einen Nachtclub mit gläsernem Pool auf, in dem nackte Nixen nach Münzen tauchten, die die Gäste hineinwarfen; Kalk, bei Gelegenheit durchaus dem zugetan, was beim Objekt seines medizinischen Interesses Schaden anrichtet, hüpfte im Smoking in den Pool … Abenteuerlich muss die Reise nach Buenos Aires Anfang der fünfziger Jahre gewesen sein … Doch die legendäre Evita war nicht mehr zu retten. Der Leberkrebs hatte längst überall Metastasen gestreut. Als Kalk an ihr Bett trat, sagte sie: ›Doktor, du hast so traurige Augen,
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